„In meiner Nachbarschaft kann ich wirken“
Die Leute von nebenan (1): Für Erdtrud Mühlens bilden die Menschen, die uns räumlich nahe sind, eine Mikrowelt der Gesellschaft
Wir leben mit ihnen Tür an Tür, im selben Haus, in der Straße, im Viertel – und das oft über Jahrzehnte hinweg: Unsere Nachbarn. Sie sind uns räumlich und manchmal auch mental am nächsten. Grund genug, ihnen und der Nachbarschaft eine Serie in unserem Lokalteil zu widmen. Zum Auftakt erläutert Netzwerkerin Erdtrud Mühlens, was Nachbarschaft ausmacht, wie sie gestaltet werden kann, wie sie sich wandelt, was sie benötigt, um lebendig zu sein.
Von Nicola Scharpf
Das Wort Nachbar kommt aus dem Althochdeutschen und besteht aus zwei Begriffen, die übersetzt so viel wie „nah“ und „Bauer“ bedeuten. Will heißen: Ursprünglich war der Bauer vom nächstgelegenen Hof derjenige, dessen Hilfe die nötigste war. Wie definieren Sie „Nachbar“ heute?
Das sind die Menschen, die uns räumlich am nächsten sind. Im städtischen Umfeld, wo es viele Mehrfamilienhäuser und Hochhäuser gibt, sind Nachbarn die Menschen, die neben uns im Haus und in der Straße wohnen. Mit denen bilden wir einen „inner circle“. Unsere Bedürfnisse bezüglich des Wohnens und der Wohnumgebung sind ähnlich oder identisch. Da lässt sich bei Bedarf schnell Kontakt herstellen. Im ländlichen Bereich kommen wir mehr in die Richtung der bäuerlichen Zusammenhänge. Das sind größere Radien. Hier würde ich Nachbarschaft anders definieren als Gemeinschaft oder Dorfgemeinschaft, die sich aus gemeinsamen Feiern und kulturellen Veranstaltungen sowie durch sehr zuverlässige Hilfsstrukturen ergibt.
Genau mit diesen verschiedenen Formen des Wohnens und dadurch auch mit verschiedenen Formen der Nachbarschaft wollen wir uns in unserer Serie beschäftigen. Gibt es, unabhängig davon, ob ich im Hochhaus lebe oder auf dem Aussiedlerhof oder in einer Flüchtlingsunterkunft, etwas Allgemeingültiges im Begriff „Nachbar“?
Nachbarn sind die Menschen, die wir als Erstes ansprechen, wenn Not am Mann ist. Wenn etwas passiert, zum Beispiel dass der Strom im Haus ausfällt oder es eine Überschwemmung gibt, dann ist der Nachbar derjenige, den wir zuallererst ansprechen.
Sie bezeichnen Nachbarschaft als „Mikrowelt der Gesellschaft“. Was meinen Sie damit?
Das ist die kleine Welt, in der alles stattfindet, was wir auch global beobachten können. In der Mikrowelt sind die Dinge nur viel direkter. Beispielsweise wenn ich die Folgen der Klimaveränderung betrachte. Ich habe registriert, dass es in Backnang vonseiten der Kommune da schon sehr interessante Projekte gibt. Der Masterplan Green City hat mich beeindruckt. Beim Thema Begrünung können Nachbarn wirklich extrem gut etwas miteinander machen. Wir wissen zum Beispiel, dass Dachbegrünung oder Fassadenbegrünung sehr hilfreich ist, das Klima in Städten zu beeinflussen, also dass sie helfen, Hitze und Extremwetterlagen abzudämpfen. Die globalen Herausforderungen spielen bis in die Mikrowelt der Nachbarschaft hinein. Der Vorteil, den ich habe: Ich muss nicht zuschauen, ich kann selbst etwas tun. In meiner Nachbarschaft kann ich wirken. Das ist im globalen Bereich schwieriger.
Was macht eine gute Nachbarschaft aus?
Das ist für mich, dass die Nachbarn aufeinander zugehen. Dass sie aufmerksam füreinander sind. Es geht so los, dass ich mich, wenn ich neu in einer Nachbarschaft bin, vorstelle, dass ich die Menschen kennenlerne, mit denen ich in unmittelbarer Nähe wohne. Lebendigkeit ist etwas, das man ausloten muss. Was kann da geschehen? Im besten Falle treffen sich die Nachbarn regelmäßig, um sich auszutauschen, um ihre Interessen gegenseitig kennenzulernen, um auch etwas Gemeinsames zu unternehmen. Das ist für mich auch der nächste, wichtige und gute Schritt, dass man gemeinsam beschließt: Wir begrünen zum Beispiel den Innenhof oder organisieren ein Straßenfest oder nehmen Probleme in Angriff, die einen gemeinsam belasten. In einer lebendigen Nachbarschaft passiert etwas. Das bezieht auch mit ein, dass man sich in Konfliktsituationen austauscht und aufeinander zugeht. Und dass man Andersartigkeit und Fremdheit in diesem kleinen Umfeld überwindet. Gerne können neue Wahlverwandtschaften und Freundschaften entstehen und ich trage aktiv dazu bei.
Das ist ein schönes Ideal.
Ich bin in einer großen, kinderreichen Siedlung aufgewachsen. Da waren alle Mütter – die Väter arbeiteten damals, das war so das klassische Rollenverständnis – für alle Kinder zuständig. Wir haben uns durch die Gärten gespielt. Egal wo, es war immer ein Auge drauf. Das war für meinen Begriff von guter Nachbarschaft prägend.
Unsere Nachbarn können wir uns meistens nicht aussuchen. Wie findet man am besten ein Auskommen miteinander, wenn sich diese gute Nachbarschaft nicht so leben lässt?
Es gibt in allen Nachbarschaften bestimmte Typen. Es gibt überall Zögerer oder diejenigen, die sagen „ach, das bringt doch alles nichts“ oder „ich will meine Ruhe haben“ oder die frustriert von der Arbeit kommen und einen nicht grüßen. Ich glaube, mit einer freundlichen Art kann man auf diese Menschen zugehen, aber man muss es auch nicht erzwingen. Man selbst sollte sich aber nicht davon abhalten lassen, die Gemeinschaft zu gestalten. Es gibt auch den Effekt: Wenn ich mit den Nachbarn, die wollen, etwas mache, kann es durchaus gelingen, dass die anderen beispielsweise das Nachbarschaftsfest erst beobachten und dann feststellen: Es ist vielleicht doch ganz schön, wenn ich mich da nicht so abgrenze.
Es gibt auch Nachbarn, die gegeneinander vor Gericht prozessieren. Woran scheitert Nachbarschaft am häufigsten?
Wenn man bedenkt, dass wir in Deutschland etwa 60 Millionen erwachsene Nachbarn haben, dann sind solche Nachbarschaftskonflikte, die vor Gericht landen, schon verschwindend wenig. Dennoch haben sie eine gute Präsenz in den Medien. Und es ist auch ein wichtiges Thema, genauso wie Konflikte in allen Beziehungen eine wichtige Rolle spielen, weil sie sehr belasten. Lautstärke ist meistens ein Konfliktpotenzial. Ich sollte die Haltung haben: Ich informiere den Störer darüber, was die Lautstärke mit mir macht, und arbeite nicht mit Schuldzuweisungen. Das ist, glaube ich, die gute Position. Und das kann ganz freundlich passieren. Wenn es beim besten Willen nicht gelingt, eine gute Vereinbarung zu treffen, empfehlen wir das Mittel der Mediation, also einer neutralen Person. Das kann ein anderer Nachbar sein, aber es gibt auch überall Profis. Es gibt, und dahin sollte die Orientierung gehen, immer eine positive Option, mit Bedürfnissen in Nachbarschaften umzugehen.
In Backnang ist momentan ein Mehrgenerationenhaus im Bau, das individuelle Wohnungen und Gemeinschaftsräume vorsieht. Solche und ähnliche Wohnprojekte scheinen im Moment im Trend zu sein. Warum ist das so?
Der allgemeine Trend ist ohnehin, dass die Menschen mehr zusammenrücken, weil sie sehen, dass es im sozialen Bereich von außen viele Attacken gibt und dass es schon gut ist, zu wissen, in meiner Nachbarschaft bin ich sicher zu Hause. Mehrgenerationenhäuser sind eine starke Option, sich über die Generationen hinweg helfen zu können. Das bietet die Mehrgenerationenhaus-Bewegung auch an, das Zusammenkommen, um sich danach wieder zurückziehen zu können. Beides ist möglich und bereichert den Lebensalltag.
Eine bewusste Abkehr von der Anonymität?
Unbedingt ja. Die Anonymität hat nur negative Seiten. Sie macht auch krank. Mal davon abgesehen: Gerade ältere Menschen brauchen Kontakte. Sie ziehen sich ohnehin eher zurück. Es ist ein Merkmal dieser Generation, dass sehr viele als Singles leben, also ältere Menschen, die alleine sind und sich im Grunde genommen nicht mehr richtig raus trauen. Diese Bewegungslosigkeit macht noch zusätzlich krank. Hier ist ganz viel Potenzial, dass die Jungen, die mit der Kindererziehung und der Berufstätigkeit auch überfordert sind, mit den Älteren zusammen einen wunderbaren Generationenpakt schließen können.
Landauf, landab sterben Vereine, weil sie nicht genug Mitglieder haben, die sich engagieren beziehungsweise die Eigeninitiative entwickeln. Wie kann es gelingen, dass die gleichen Menschen, die die Gemeinschaft „Verein“ nicht vorantreiben, sich in Wohnumfeld oder Nachbarschaft engagieren?
Ich bin noch nicht so ganz schlüssig, woran das Vereinssterben liegt. Man müsste hier genauer hingucken, welche Vereine das sind: Welche sind abnehmend, welche gewinnen sogar an Zulauf? Generell ist Nachbarschaft wunderbar unmittelbar und unbürokratisch. Man kann sich einbringen, wie man lustig ist. Das macht sehr viel aus. Nachbarschaft sollte mit Humor und Lust und Engagement gemacht werden und nicht, weil von oben gesagt wird, ihr müsst jetzt aber mal da ran, weil es sonst keiner tut. Die Eigeninitiative hat dort viel mehr Raum. Es gibt in Vereinen die Entwicklung: Die einen machen ganz viel und die anderen freuen sich, dass sie nicht so viel machen müssen. Ehe man sich versieht, hat sich das verfestigt. Dann werden die, die immer viel machen, irgendwann sauer oder schmeißen das Handtuch. Man kann für mehr Ausgleich sorgen, indem sich die Aktiven nicht aller Dinge annehmen, sondern Demokratie im Sinne von „Ihr dürft alle mal mitmachen“ gelebt wird. Das ist eine Anforderung an die Aktiven und die Passiven, wenn man so will.
Aber ist das in der Nachbarschaft so viel anders? Derjenige, der das Nachbarschaftsfest einmal organisiert hat, wird es wahrscheinlich im nächsten Jahr wieder organisieren dürfen oder müssen.
Das ist eine Herausforderung wie in jeder Beziehung. Wenn man sich da zu sehr auf die eine Position einspielt, hat es den Nachteil, dass es sich verfestigt. Vormachen ja. Aber die Position für immer und ewig zu besetzen, das wäre verkehrt. Da muss man sich selbst an die Nase fassen: Wie hat man das befördert?
Sie persönlich hatten ein einschneidendes Erlebnis – das Erleben und Überleben des Tsunamis 2004 in Sri Lanka –, sich dem Thema Nachbarschaft zuzuwenden. Geht es auch ohne so einen starken Impuls?
Das kann ich nur bejahen. Für mich war das der Impuls, zu sagen, dass ich meine Fähigkeiten und Talente konstruktiv und offensiv einsetzen kann. Ich glaube, es sind häufig besondere Begegnungen, die etwas bewirken. Man geht über den Flur, trifft einen Nachbarn und kommt in ein nettes Gespräch. Der Nachbar sagt: Ich habe dieses und jenes beobachtet. Aus solchen Begebenheiten kann eine Initiative entstehen. Es sind die kleinen Initiativen, um die es geht. Zum Beispiel wenn ich weiß, dass mein Nachbar für mich die Post annimmt. Dann ist das eine große Hilfe. Sonst stehe ich samstags beim Postamt in der langen, langen Schlange. Also hilft er mir sehr. Das zurückzugeben, sich zu überlegen, was ich für diesen Nachbarn Gutes tun kann, ist auch ein Impuls. Das Prinzip des Gebens und Nehmens, die positive Seite dessen, was man miteinander umsetzen kann, braucht vorher kein Drama.