Studie „Wildnis in Deutschland“

Into the Wild: Sehnsucht nach der wilden Natur

Die Natur mehr sich selbst überlassen: Das fordern nicht nur Naturschützer. Das Potenzial für mehr Wildnisflächen ist da, wie eine neue Studie zeigt.

So atemberaubend schön kann unberührte Natur sein: Jamtland County in Schweden.

© Imago/Cavan Images

So atemberaubend schön kann unberührte Natur sein: Jamtland County in Schweden.

Von Markus Brauer/dpa

Wildnis. Das Wort hat einen magisch-verzauberten Klang. Unwillkürlich denkt man an ausgedehnte, vom Menschen völlig unberührte Landschaften, wie sie in Kanada, Sibirien, Amazonien oder der Antarktis noch existieren. In denen seltene Tiere wie Tiger und Luchse umherstreifen, Biber und Otter leben, Bäume und Pflanzen ungezügelt wachsen und Flüsse mäandern können wie es ihnen beliebt.

In dem Wort spiegelt sich die Sehnsucht des Menschen wieder nach einer ursprünglichen Natur, in der wirtschaftliche Interessen außer Kraft gesetzt sind und wo sich Flora und Fauna nach ihren eigenen Gesetzen entfalten können und sich selbst überlassen sind, unabhängig vom menschlichen Eingreifen und Gestalten.

Echte Wildnis gibt es in Mitteleuropa nicht mehr

Doch was gemeinhin als Wildnis verstanden wird, hat mit einer völlig unberührten Landschaft nur wenig zu tun. In Mitteleuropa und Deutschland dürfte es keine Region geben, die einem ursprünglichen Urwald entspricht. Überall finden sich menschliche Fußspuren. Was in Deutschland kreucht und fleucht, ist das Ergebnis einer Jahrtausenden alten Nutzung.

Wildnis ist wie Natur kein eindeutig definierbarer Begriff. Beides sind soziokulturelle Konstrukte. Die jeweiligen Vorstellungen von Wildnis sind geprägt von der Kultur eines Landes, von den Werten, die eine Gesellschaft prägen und auch ganz persönlichen Überzeugungen. Was heute als Wildnis empfunden und herbeigesehnt wird, ist also kein urwüchsiges Stück Natur, sondern eine Kulturlandschaft.

Ungezähmte und unberührte Natur

Schon der griechische Philosoph Aristoteles definierte Natur als das, was aus sich selber heraus wächst und gedeiht. Bei diesem Verständnis ist es im Prinzip bis heute geblieben. Wer heute Natur schützen will und sie als Urwald erhalten will, muss ihren Lebensrhythmus und den Kreislauf von Werden und Vergehen zulassen, ohne gestaltend einzugreifen.

Der Begriff Wildnis taucht erstmals im 15. Jahrhundert auf. Er leitet sich vom Mittelhochdeutschen „wiltnis“ ab und meint das Gegenteil von menschlicher Zivilisation und Kulturlandschaft – „die ungezähmte, unbebaute, nicht überformte und nicht(intensiv) genutzte Natur“, wie es in der Studie „Naturbewusstseins 2023“ heißt.

In der amerikanischen „Wilderness“-Bewegung des 19. Jahrhunderts fand diese Deutung ihre philosophische Grundlage. Hier wurde die Natur idealisiert und zum Gegenpol einer menschlich gestalteten Kulturlandschaft stilisiert.

So steht es um Deutschlands Wildnis

Ziel verfehlt – aber Potenzial vorhanden: Deutschland hat der Studie „Wildnis in Deutschland“ der Heinz-Sielmann-Stiftung zufolge bislang nur 0,62 Prozent seiner Fläche wieder in große Wildnisgebiete umgewandelt. Das sind rund 220.600 Hektar. Geplant waren bis 2020 eigentlich zwei Prozent.

Experten zufolge könnte die Marke künftig aber erreicht werden. „Die zwei Prozent sind realistisch“, sagt Adrian Johst, Geschäftsführer der Naturstiftung David. Deutschland habe passende Flächen. In den kommenden Jahren könne der Anteil mit bereits konkret geplanten Gebieten auf 0,73 Prozent steigen.

Die Zwei-Prozent-Marke ist ein Kernziel der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt der damaligen Bundesregierung aus dem Jahr 2007. Experten der Naturstiftung David, der Heinz Sielmann Stiftung und der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt haben jetzt untersucht, wie groß der Anteil der Wildnisgebiete in Deutschland und wie groß das Potenzial für weitere Gebiete ist.

Experten: Ziel könnte übertroffen werden

Die Hochrechnungen zeigen laut Heiko Schumacher von der Heinz Sielmann Stiftung, dass sich auf weiteren 1,67 Prozent der Landesfläche großflächige Wildnisgebiete etablieren lassen würden - und damit das Zwei-Prozent-Ziel sogar noch übertroffen werden könnte.

  • Mecklenburg-Vorpommern (1,6 Prozent) und Brandenburg (1,1 Prozent) stehen demnach bereits jetzt kurz davor, das Ziel jeweils für ihr Bundesland zu erreichen. „Das sind Länder, die noch sehr viele große, unzerschnittene Flächen haben“, erklärt Adrian Johst. Mit rund 38.000 Hektar hat das nordöstliche Bundesland die meisten Wildnisflächen bundesweit, demnächst komme noch eine etwa 1000 Hektar große Waldfläche auf Rügen hinzu. Brandenburg hat rund 34.000 Hektar Wildnisflächen.
  • Bayern verfüge mit rund 36.500 Hektar zwar auch über relativ viel Wildnisfläche. Wegen der großen Gesamtfläche des Bundeslandes liege der Anteil aber nur bei rund 0,5 Prozent, erläutert Johst.
  • Selbst im dicht besiedelten Nordrhein-Westfalen wäre es ihm zufolge möglich, nach den relativ strengen Kriterien zwei Prozent der Landesfläche als Wildnisgebiete auszuweisen. „Da würden natürlich sehr viele Landeswaldflächen drunter fallen“, betont der Experte. Die Frage, ob das politisch gewollt sei, stehe auf einem anderen Blatt. In Nordrhein-Westfalen ist die Wildnis der Auswertung zufolge derzeit auf rund 7.800 Hektar sich selbst überlassen, das sind 0,2 Prozent der Landesfläche.

Was Wildnis ausmacht

In großen Wildnisgebieten kann sich die Natur ohne direkte Eingriffe des Menschen entwickeln. Die Gebiete müssen eine zusammenhängende Fläche von mindestens 1000 Hektar aufweisen. Für Auwälder, Küsten und Moore sind 500 Hektar ausreichend. Viele der Wildnisgebiete liegen in Nationalparks.

Wildnis kann den Experten zufolge auch auf stark vom Menschen geprägten Flächen entstehen – wie beispielsweise ehemaligen Bergbau- und Militärflächen.

Nabu: Viele Menschen wünschen sich Wildnis

„In Wildnisgebieten hat die Natur wieder Raum und Zeit, sich aus eigener Kraft zu entwickeln. Doch im dicht besiedelten Deutschland sind Gebiete, in denen sich die Natur frei entfalten kann, sehr selten geworden. Dabei wünscht sich eine große Mehrheit der Deutschen mehr Wildnis vor der eigenen Haustür“, unterstreicht Christian Unselt, Vorsitzender der Nabu-Stiftung Nationales Naturerbe.

„Wildnis ist eine Schatzkammer der biologischen Vielfalt. Sie ist ein ganz wichtiger Lebensraum für Tiere und Pflanzen, die auf diese natürliche Entwicklung angewiesen sind“, ergänzt Heiko Schuhmacher von der Heinz Sielmann Stiftung. Auch für den Klima- und Hochwasserschutz sei sie wichtig.

Wildnis-Strategie wird derzeit aktualisiert

Die meisten der bestehenden Wildnisgebiete in Deutschland sind den gesammelten Daten zufolge Nadelwälder (rund 34 Prozent), gefolgt von Laubwäldern (rund 25 Prozent) und Mischwäldern (8 Prozent).

Die Nationale Strategie von 2007 werde aktuell überarbeitet, heißt es weiter. Die Bundesregierung wolle nun bis 2030 die Zwei-Prozent-Marke erreichen. „Der Bund braucht dazu aber die Länder, private Akteure, Stiftungen und Verbände, die das Ziel umsetzen“, sagt Adrian Johst. Der Bund habe nicht genug Flächen, um es allein zu verwirklichen.

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Erstellt:
9. Dezember 2024, 17:42 Uhr

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