Präsidentschaftswahl in Iran

Iranischer Widerstand: „Selten war das Regime so wackelig wie heute“

Die Präsidentin des Iranischen Widerstandsrates, Maryam Rajavi, ruft im Interview mit unserer Zeitung den Westen zu einer harten Politik gegen die Mullahs auf.

Sieht die Beschwichtigungspolitik des Westens als gescheitert an: die Präsidentin des Nationalen Widerstandsrates des Iran, Maryam Rajavi.

© AFP/TIZIANA FABI

Sieht die Beschwichtigungspolitik des Westens als gescheitert an: die Präsidentin des Nationalen Widerstandsrates des Iran, Maryam Rajavi.

Von Norbert Wallet

Wirtschaftskrise, Massenproteste und der eskalierende Nahost-Konflikt: In einer äußerst angespannten Lage wählen die Menschen im Iran am Freitag einen neuen Präsidenten. Der ultrakonservative Wächterrat hat sechs Kandidaten zugelassen, darunter nur ein einziger Reformer – eine Scheinwahl, so Maryam Rajavi, Präsidentin des Nationalen Widerstandsrates des Iran.

Frau Radjavi, was sagt die handverlesene Auswahl von Präsidentschaftskandidaten über die nähere Zukunft des Regimes aus?

Lassen Sie mich zunächst sagen, dass es von Natur aus widersprüchlich ist, über Wahlen in einer Theokratie zu sprechen, in der der Führer die absolute Macht hat. Präsidentschaftskandidaten wurden im Mullah-Regime immer handverlesen. Im Rahmen der neuen Scheinwahlen wird deutlich, dass der Tod von Ebrahim Raisi, des ehemaligen Präsidenten der Mullahs, ein schwerer strategischer Schlag für das Regime und insbesondere für seinen Führer Ali Khamenei war. Khamenei hatte jahrelang in Raisi investiert, um seine eigene Nachfolge zu regeln und das Überleben des Regimes zu gewährleisten.

Können das die sechs Kandidaten auch?

Von den sechs handverlesenen Kandidaten waren fünf Mitglieder oder Kommandeure der Revolutionsgarden. Bei der sechsten Person handelt es sich um einen Mullah, der wie Raisi 1988 Mitglied des Todeskomitees war, das für das Massaker an 30 000 politischen Gefangenen binnen weniger Monate – davon 90 Prozent Mitglieder der Volksmudschahedin – verantwortlich war. Das zeigt: Die inszenierte Präsidentschaftswahl wird unabhängig von ihrem Ausgang zu mehr Repression im eigenen Land, zu einer stärkeren Fokussierung auf Kriegstreiberei, Unterstützung des Terrorismus in der Region sowie zu verstärkten Bemühungen zur Beschaffung von Atomwaffen führen.

Täuscht der Eindruck, dass der Widerstand im Land allein zu schwach bleibt, um das Regime zu überwinden?

Selten war das Regime so wackelig und instabil wie heute. Der Grund dafür, dass das Regime immer mehr zur Brutalität greift, besteht genau darin, diese Instabilität zu vertuschen. Das soziale und wirtschaftliche Potenzial des Regimes geht gegen Null und es hat keinerlei Unterstützung in der Bevölkerung. Seit 2017 fordert das iranische Volk in zahlreichen landesweiten Aufständen, die immer größer und radikaler werden, offen den Sturz des Regimes und lehnt sowohl die „Hardliner“ als auch die sogenannten. „Reformisten“ ab. Eine explosive Gesellschaft, eine unzufriedene Nation und ein landesweit organisierter Widerstand haben sich stattdessen entwickelt.

Und dennoch...

Trotz aller zunehmenden Repressionen nimmt die Aktivität von Widerstandseinheiten kontinuierlich zu. Die rebellische junge Generation verbrennt im ganzen Land die Symbole des Regimes. Die Rentner und Arbeiter protestieren und streiken. In den letzten Wochen haben wir überall im Iran 20  00 Anti-Repressionsaktivitäten von Widerstandseinheiten beobachtet. Die Realität, die die Mullahs nicht der Welt zeigen wollen, ist, dass das iranische Volk und der Widerstand die Fähigkeit haben, das Regime zu stürzen. Aber es ist wichtig, dass der Westen mit einer entschiedenen Politik auf die Verbrechen des Regimes reagiert und ihm keine Zugeständnisse macht und ihm den Zugang zu finanziellen Ressourcen versperrt. Dies ist die einzige Forderung des iranischen Volkes und seines organisierten Widerstands an die internationale Gemeinschaft.

Sie fordern von der EU seit langem die Listung der Revolutionsgarden als Terrororganisation. Welche Vorteile hätte das?

Die Revolutionsgarde ist das wichtigste Instrument zur Unterdrückung im Inland, zur Kriegstreiberei sowie zum Export von Terrorismus in weiten Teilen der Welt. Der größte Teil der iranischen Wirtschaft und ihre Schlüsselbereiche stehen unter ihrer Kontrolle. Viele ihrer Tarnfirmen, deren Einnahmen zur Finanzierung terroristischer Gruppen und Stellvertreter-Milizen verwendet werden, sind außerhalb des Iran ansässig, und manche davon wurden vom iranischen Widerstand entlarvt. Das Überleben des Regimes ist an die Garden gebunden. Eine Aufnahme in die Liste der Terrororganisationen hätte schwerwiegende politische und wirtschaftliche Folgen für das Regime.

Es heißt, der Iran steht nun ganz kurz vor der Atombombe. Was bedeutet das für die westliche Politik gegenüber dem Regime?

Wenn die Beschwichtigungspolitik weitergeht, wird dieses Regime definitiv an die Atombombe gelangen. Ich habe bereits des Öfteren darauf hingewiesen, dass man keinen Moment zögern sollte, die Resolution 2231 des UN-Sicherheitsrates wieder in Kraft zu setzen, die bei Verletzung der Verträge Strafmaßnahmen und Sanktionen beinhaltet. Deutschland kann hier Vorreiter sein. Alle entsprechenden Resolutionen des Sicherheitsrats sollten reaktiviert und umfassende Sanktionen gegen das Regime verhängt werden. Jeder Tag Verspätung wird fatale Konsequenzen nach sich ziehen. Die ultimative Lösung, um zu verhindern, dass sich ein brutales fundamentalistisches Regime durchsetzt, besteht aber darin, dieses Regime durch das iranische Volk und den Widerstand abzuschaffen.

Deutschland rühmte sich oft seiner „besonderen Beziehungen“ zu Teheran. Was sollte die Bundesregierung jetzt tun?

Leider ist die Politik Deutschlands und Europas, die auf Zugeständnissen, Verhandlungen und Sanftmut gegenüber dem Regime beruhte, gescheitert. Diese Politik hat die Mullahs als „Kopf der Schlange“ des Fundamentalismus und Terrorismus nur zu mehr Unterdrückung im Inland, Kriegstreiberei und regionaler Einmischung ermutigt. Die grundlegende Tatsache ist, dass das iranische Volk die Diktatur der Mullahs nicht will und dieses Kapitel der Geschichte für immer abschließen möchte. Es ist an der Zeit, dass sich Deutschland und Europa von den Mullahs völlig lossagen. Ich empfehle den europäischen Staats- und Regierungschefs, sich die Massenkundgebung am 29. Juni in Berlin anzuhören. Einen Tag nach der Wahlfarce wollen die Iraner diese starke Botschaft an die Welt senden: „Im Iran, unter der Herrschaft des religiösen Faschismus, ist nicht die Zeit der Wahlen, sondern die Zeit der Revolution.“

Die deutsche Regierung fürchtet offenbar ein Machtvakuum nach einem Umsturz...

Ja. Das wichtigste Hindernis für eine entschlossene Politik gegenüber dem iranischen Regime ist die Hypothese, dass es keine gangbare und demokratische Alternative für den Iran gebe. Dies ist ein falsches Narrativ, das vom iranischen Regime und seinen Lobbys in die Welt gesetzt wurde. Die Welt ist nicht dazu verdammt, der Erpressung und Geiselnahme durch Teheran nachzugeben. Die Bestandteile einer entschlossenen Politik sind klar: die Terrorlistung der Revolutionsgarde, Rechenschaft gegen die Führer des Regimes wegen vier Jahrzehnte Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Wiedereinsetzung von in Resolutionen des UN-Sicherheitsrats festgelegten Strafmaßnahmen und die Anerkennung des Kampfes des iranischen Volkes und der Widerstandseinheiten für die Abschaffung der Diktatur und gegen die Revolutionsgarden.

Wie würde eine erneute Präsidentschaft Donald Trumps die Iran-Politik verändern?

Ich muss betonen, dass der Widerstand des iranischen Volkes nicht auf die Einmischung einer ausländischen Macht hofft. Es ist an der Zeit, die Politik der Krokodilfütterung zu stoppen, die in den letzten vier Jahrzehnten der Leitfaden der westlichen Iran-Politik war. Das iranische Volk und sein Widerstand werden dieses Regime abschaffen.

Zum Artikel

Erstellt:
26. Juni 2024, 16:20 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen