Türkische Metropole nicht erdbebensicher
Istanbul lebt in Angst vor dem Mega-Beben
Zelte in den Parks, Angst in den Straßen: Mehrere Erdstöße erschüttern Istanbul. Die Lage bleibt angespannt und die Kritik an der Politik wächst. Sind das Vorboten eines Mega-Bebens, dass die türkische 16-Millionen-Metropole in das totale Chaos stürzen würde?

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Geologisches Pulverfass: Luftaufnahme aus einem Flugzeug, das über Istanbul und das Marmarameer fliegt.
Von Markus Brauer/dpa/AFP
Nach den Erdbeben in der türkischen 16-Millionen-Metropole Istanbul steht die Bevölkerung weiter unter Schock. Zahlreiche Menschen verbrachten die Nächte im Freien und schlugen in Parks oder auf anderen Grünflächen Zelte auf, wie türkische Medien berichten. Das Beben hat keinen größeren Schaden angerichtet, aber die Angst vor einer laut Experten unabwendbaren Katastrophe befeuert.
Istanbul wurde am Mittwoch (23. April) von mehreren Erdbeben erschüttert. Um 12.49 Uhr Ortszeit registrierte der Katastrophendienst Afad das bislang stärkste Beben der Stärke 6,2 mit einem Epizentrum im vor der Stadt gelegenen Marmarameer. Zahlreiche weitere Erdstöße der Stärken 4 bis 5 folgten. Bis zum Abend meldete Afad 184 Nachbeben.
Istanbul nicht erdbebensicher
Obwohl Experten seit Jahrzehnten vor einem großen Erdbeben warnen, gilt die Metropole am Bosporus – das am dichtesten besiedelten Gebiet des Landes – nicht als erdbebensicher. Zwar wurde in den vergangenen Jahren auch vor dem Hintergrund der verheerenden Erdbebenkatastrophe im Südosten des Landes im Jahr 2023 Programme zur Erneuerung gefährdeter Gebäude vorangetrieben. Weit mehr als eine Million Gebäude gelten aber immer noch als nicht sicher.
Experten gehen davon aus, dass das befürchtete Großbeben mit einer Stärke von etwa 7 Zehntausende oder Hunderttausende Menschen töten könnte. Als Grund wird etwa die schlechte Bausubstanz genannt. Die Türkei liegt in einer der seismisch aktivsten Gegenden der Welt.
Zwölf Gebäude vorsorglich evakuiert
Laut dem Istanbuler Gouverneursamt gab es zunächst keine Berichte über eingestürzte Gebäude. Die Bürger wurden gebeten, Ruhe zu bewahren und sich beschädigten Gebäuden nicht zu nähern.
Der Minister für Verkehr und Infrastruktur, Abdulkadir Uraloglu, schrieb auf der Plattform X, es seien bei einer ersten Bestandsaufnahme keine Schäden an Straßen, Flughäfen, Zügen und U-Bahnen festgestellt worden. Laut Städtebauminister Murat Kurum wurden zwölf Gebäude vorsorglich evakuiert.
Das Beben hatte zahlreiche Menschen in der Stadt auf die Straße stürmen lassen. Berichten des Staatssenders TRT zufolge holten Menschen ihre Angehörigen aus Krankenhäusern. Teilweise waren Telefonnetz und Internet gestört. Viele Flüge aus Istanbul waren am Mittwochabend ausgebucht, auch auf den Straßen hatten sich über Stunden Autos gestaut.
Experten warnen vor möglichem weiteren Beben
Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass ein weiteres starkes Beben folge, warnt der Geologe Okan Tüysüz. Das Hauptbeben werde noch kommen, schreibt Erdbebenforscher Naci Görür.
Die Region ist Teil des Nordanatolischen Verwerfungssystems, einer großen tektonischen Plattengrenze, die für zerstörerische Erdbeben mit vielen Opfern bekannt ist. Das Epizentrum des erwarteten Bebens liegt etwa 15 Kilometer vor der Stadt im Marmarameer, wo die Plattengrenze verläuft. Die Erdbebenwarte Kandilli gibt die Wahrscheinlichkeit für ein sehr schweres Beben bis zum Jahr 2030 mit 60 Prozent an.
Istanbul liegt am Nordufer des Marmarameers in der Nähe der Nordanatolischen Verwerfung, die zu den aktivsten Erdbebenzonen der Erde gehört. Hinzu kommt, dass die Stadt teilweise auf ungünstigem Untergrund liegt: Der südwestliche Teil etwa liegt nicht auf festem Grund wie Granit, sondern auf einer ausgetrockneten Lagune.
Erdstöße waren bis nach Griechenland zu spüren
Das Erdbeben war auch in Teilen des Nachbarlands Griechenland deutlich zu spüren. Vor allem im Nordosten am Grenzfluss Evros zur Türkei hin wurden die Menschen in Angst versetzt, berichten griechische Medien. Meldungen über die Erdstöße gab es außerdem von etlichen Ägäisinseln, darunter Chios und Lesbos. Schäden habe es jedoch nicht gegeben.
Auch im nordwestlich angrenzenden Bulgarien wurde das Beben gespürt, am stärksten im südöstlichen Grenzgebiet und in der Region Burgas am Schwarzen Meer, wie das Geophysische Institut in Sofia mitteilt.
„Maßnahmen der Städte sind nicht ausreichend“
Weder die lokale Regierung Istanbuls, noch die Zentralregierung oder das Volk seien sich der Gefahr wirklich bewusst, sagt Görür. „Maßnahmen zur Erdbebenresistenz der Städte in der Türkei sind nicht ausreichend.“
Viele Gebäude, die bei einem schweren Erdbeben einstürzen würden, seien bisher nicht aufgerüstet worden, mahnt auch Sükrü Ersoy, Geologieprofessor von der Yildiz Technischen Universität. „Angesichts der hohen Bevölkerungsdichte lassen sich Schäden auch bei entsprechender Planung nur schwer vermeiden.“
Städtebauminister Kurum betont, Istanbul werde einem Erdbeben nicht standhalten. Insgesamt würden 1,5 Millionen Wohnungen und Gewerbeeinheiten als erdbebengefährdet gelten.
Wann könnte die Erde bei Istanbul beben?
Geologen sind sich einig. Das nächste schwere Beben in Istanbul ist längst überfällig. Aktuelle seismische Analysen bestätigen, dass die Plattengrenze südlich von Istanbul blockiert ist. Dort sind die anatolische und eurasische Erdplatte komplett ineinander verhakt. Kommt es dort zum Bruch der Verwerfung kommt – nur das Wann, nicht das Ob ist noch offen –, wäre ein Beben von einer Stärke bis 7,4 auf der Richterskala sehr wahrscheinlich.
Im Jahr 1999 waren bei einem Erdbeben der Stärke 7,6 am östlichen Stadtrand von Istanbul mehr 17.000 Menschen ums Leben gekommen. Seitdem hat sich die Einwohlzahl Istanbuls fast verdoppelt.
Info: Info: Messung von Erdbeben
Messung Bei der Messung von Erdbeben wird die Stärke der Bodenbewegung angegeben (Magnitude). Weltweit treten jährlich etwa 50 000 Beben der Stärke 3 bis 4 auf. Etwa 800 haben die Stärken 5 oder 6. Ein Großbeben hat den Wert 8.
Stärken Das heftigste bisher auf der Erde gemessene Beben hatte eine Magnitude von 9,5 und ereignete sich 1960 in Chile. Erdbeben können je nach Dauer, Bodenbeschaffenheit und Bauweise in der Region unterschiedliche Auswirkungen haben.
Magnitude
- Stärke 1-2: nur durch Instrumente nachzuweisen
- Stärke 3: nur in der Nähe des Epizentrums zu spüren
- Stärke 4-5: 30 Kilometer um das Zentrum spürbar, leichte Schäden
- Stärke 6: mäßiges Beben, Tote und schwere Schäden in dicht besiedelten Regionen
- Stärke 7: starkes Beben, oft katastrophale Folgen und Todesopfer
- Stärke 8: Großbeben mit vielen Opfern und schweren Verwüstungen
Richterskala Früher wurde die Erdbebenstärke einheitlich nach der Richterskala bestimmt. Der amerikanische Geophysiker Charles Francis Richter hatte die Skala 1935 speziell für Kalifornien ausgearbeitet. Heute wird sie nur noch eingeschränkt eingesetzt, auch weil das Verfahren nur bei Erschütterungen in der Nähe der Messstationen zuverlässige Werte liefert (Lokalmagnitude).
Mess-Skalen Mittlerweile werden mehrere Skalen parallel verwendet. Derzeit gilt die sogenannte Momentmagnitude als bestes physikalisches Maß für die Stärke eines Bebens. Sie bestimmt das gesamte Spektrum der seismischen Wellen bei Erdstößen. Die meisten Skalen ergeben zumindest bei schwächeren Beben ähnliche Werte wie die Richterskala, erlauben aber eine genauere Differenzierung bei schweren Beben .