Erschreckende Zahlen
Jeder zehnte junge Erwachsene kennt den Holocaust nicht
80 Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz wird die Aufklärung über die Schoah komplizierter. Eine Umfrage der Jewish Claims Conference zeigt Wissenslücken und eine Sorge.
Von Markus Brauer/dpa
Jeder zehnte junge Erwachsene in Deutschland hat einer Umfrage zufolge noch nie etwas von den Begriffen Holocaust oder Schoah gehört. In Deutschland sagten dies auf eine entsprechende Frage 12 Prozent der befragten 18- bis 29-Jährigen. In Österreich waren es 14, in Rumänien 15, in Frankreich sogar 46 Prozent der jungen Leute.
Umfrage in acht Ländern
Die Umfrage hat die Jewish Claims Conference mit jeweils 1000 Befragten in acht Ländern in Auftrag gegeben. Diese Länder waren Deutschland, Frankreich, Österreich, Großbritannien, Polen, Ungarn, Rumänien und die USA.
- In all diesen Ländern gibt es laut der Befragung einen erheblichen Anteil von jungen Leuten, die nicht wissen, dass bis zu sechs Millionen Juden während der NS-Zeit getötet wurden.
- In Deutschland liegt der Anteil bei den 18- bis 29-Jährigen bei 40 Prozent.
- 15 Prozent sagten, die Zahl der Ermordeten liege bei zwei Millionen oder weniger.
- In den übrigen Ländern war der Anteil noch größer, am höchsten in Rumänien mit 32 Prozent.
- In Deutschland bejahten zwei Prozent aller Befragten die Aussage, der Holocaust habe nicht stattgefunden.
Sorge, dass es wieder passieren könnte
In fast allen erfassten Ländern sagte eine große Mehrheit, so etwas wie der Holocaust könnte heute wieder passieren. In den USA war der Anteil 76 Prozent, in Großbritannien 69 Prozent, in Frankreich 63 Prozent, in Österreich 62 und in Deutschland 61 Prozent. Die Umfrage fand bereits im November 2023 statt. Die Daten wurden jetzt erstmals veröffentlicht.
Der Zentralrat der Juden in Deutschland zeigt sich alarmiert über die Ergebnisse. „Der besorgniserregende Anstieg antisemitischer verbaler und körperlicher Gewalt, den wir in Deutschland beobachten, hat seine Wurzeln zu einem großen Teil in der Desinformation und dem Mangel an Informationen über den Holocaust“, erklärt Zentralratspräsident Josef Schuster. Die Studie zeige die Dimension, insbesondere mit Blick auf junge Erwachsene. Politik, Bildung und Medien müssten gemeinsam gegensteuern.
Sechs Millionen Getötete
Der Begriff Holocaust beschreibt die systematische Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch die deutschen Nationalsozialisten und deren Unterstützer zwischen 1933 und 1945.
Nach aktuellem Forschungsstand –beschrieben auf der Webseite der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem – wurden bis zu sechs Millionen Juden getötet, davon etwa eine Million im Vernichtungslager Auschwitz. Dieses wurde vor 80 Jahren, am 27. Januar 1945, befreit.
Zahlen eines „monströsen Verbrechens“
Am 27. Januar 1945 erreichten sowjetische Soldaten das Vernichtungslager im von der Wehrmacht besetzten Polen. Sie fanden etwa 7000 Überlebende. 1,3 Millionen waren in das Lager verschleppt worden.
Etwa 1,1 Millionen von ihnen wurden getötet – ermordet in Gaskammern oder erschossen oder zugrunde gerichtet durch Arbeit, Hunger, Krankheit. Unter den Ermordeten waren eine Million Juden.
„Mehr als eine Million Tote in Auschwitz, ungefähr sechs Millionen Tote des Holocaust: Das sind Zahlen eines monströsen Verbrechens, mit denen niemand etwas anfangen kann“, sagt Andrea Löw, Leiterin des Münchner Zentrums für Holocaust-Studien.
Verstehen können Nachgeborene vielleicht wirklich nur einzelne Schicksale, wie das der Berlinerin Margot Friedländer, die als junge Frau geächtet, verhaftet und verschleppt wurde. „Das waren Menschen wie Sie und ich, die aus ihrem Leben gerissen wurden», so Löw. „Diese Geschichten müssen wir erzählen.“
Rückblick ist „legitim und wichtig“
Ist der Aufschwung rechter, rechtsradikaler, rechtsextremer Ansichten heute wirklich vergleichbar mit damals? „Ich finde es anstrengend und nicht zielführend, wenn immer wieder heutige Politiker mit Hitler verglichen werden“, betont Holocaust-Forscherin Löw.
„Aber zu schauen, wo gibt es Parallelen oder Strukturen wie damals, wie haben sich damals rechtsradikale Parteien den Weg in die Regierung gebahnt – das ist legitim und wichtig.“ Löw nennt ausdrücklich die Wahlkampf-Forderungen nach „Remigration“ oder nach Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft für bestimmte Gruppen. „Da gibt es deutliche Parallelen zu den 1930er Jahren.“
Die sieht auch die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer. Fragen nach heutigen Parteien oder Wahlergebnissen beantwortet sie nicht gerne. „Ich verstehe nicht sehr viel von Politik“, unterstreicht sie. „Aber ich sage immer: So hat es damals auch angefangen. Seid vorsichtig. Macht es nicht. Respektiert Menschen, das ist doch das Wesentliche.“