Antike Mittelmeer-Zivilisation
Kann die Schrift der Minoer jetzt entschlüsselt werden?
In Knossos haben Archäologen ein Elfenbeinobjekt mit Symbolen der minoischen Linearschrift A entdeckt. Diese rund 3800 Jahre alte Schrift ist bis heute nicht entziffert. Das neu entdeckte Kultobjekt trägt 119 Zeichen dieser Schrift und ist damit die bisher längste Inschrift mit Linear-A-Symbolen.

© © Kanta et al./Ph. Sapirstein/CC-by-nc-sa 4.0
Dieses rund 3700 Jahre alte in Knossos entdeckte Elfenbeinobjekt trägt die bisher längste bekannte Inschrift in der noch nicht entzifferten Linearschrift A der Minoer.
Von Markus Brauer
Vom 3. bis zum 1. Jahrtausend v. Chr. beherrschten die Minoer die Mittelmeerinsel Kreta und den Seeverkehr im östlichen Mittelmeer. Sie waren die erste Hochkultur Europas. Schon um 2500 v. Chr. errichteten sie gewaltige Palastanlagen auf Kreta.
Parallel dazu schufen die Minoer zwei Schriftsysteme: die minoische Hieroglyphenschrift und die aus abstrakten Zeichen bestehende Linearschrift A. Sie gilt als die älteste echte Schrift Europas. Doch weder die Linearschrift A noch die Sprache, in der sie geschrieben wurde, sind bisher entschlüsselt.
Funde mit Linearschrift A sind selten und tragen meist nur sehr kurze, aus wenigen Zeichen bestehende Inschriften. Das macht es fast unmöglich, die Sprache und Symbole von Linear A zu entschlüsseln.
Gebäude und Kultobjekte aus der Minoer-Zeit
Jetzt könnte ein neuer Fund mehr Licht in das geschichtliche Dunkel bringen. Archäologen um Athanasia Kanta von der University of Virginia haben ihn bei einer Rettungsgrabung in Knossos aufgespürt.
Weil in dem Dorf unweit des berühmten minoischen Palasts Bauarbeiten geplant waren, mussten zuvor mögliche Relikte aus der minoischen Zeit kartiert und geborgen werden. Tatsächlich wurden die Spatenforscher und stießen unter den Resten eines römischen Tempels auf Überreste eines älteren Gebäudes aus der Minoerzeit. „Über dem Felsgrund trat ein Gebäude aus der Neopalast-Ära zutage, dessen Charakter bisher einzigartig ist“, berichten Kanta und ihre Kollegen.
Die Studie und weitere Aufsätze zum Thema sind in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift „Ariadne Supplement 5, 2025“ erschienen.
Sceptre en ivoire avec 119 signes en linéaire A !https://t.co/sAFecMFuf3 Sceau en hiéroglyphiques crétois dans les découvertes !https://t.co/sMnxOiEMZm Et merci aux généreux donateurs des deux parcelles de fouilles.https://t.co/NZHmXWmAOtpic.twitter.com/6Xfgq27VzH — Robin Delisle (@Aristotelique) March 25, 2025
Das um 1700 v. Chr. erbaute Gebäude diente wohl als Heiligtum, wie zahlreiche Funde von Kultobjekten, Kohlefeuern und Reste von Wandgemälden nahelegen. In einem der Räume stießen die Archäologen auf eine eingesenkte Grube, in der sie zwischen anderen Relikten einen Gegenstand mit Linearschrift-A-Symbolen.
Handelt es sich bei dem Elfenbein-„Zepter“ um ein Kultobjekt?
Es handelt sich um einen rund 14 Zentimeter großen Ring aus Elfenbein mit rund 13 Zentimeter langem Elfenbeingriff. „Beim Zusammensetzen des Objekts wurde klar, dass die Mitte des Rings einst eine Komponente aus leicht vergänglichem Material umfasste, das von ebenfalls nicht konservierten Stäben gehalten wurde“, erklären die Archäologen.
Kanta und ihr Team mutmaßen, dass es sich bei dem Elfenbeinring um ein Kultobjekt der Minoer, eine Art „Ringzepter“, handelt. „Obwohl dieses Objekt bisher einzigartig ist, könnte es auf einigen Funden dargestellt sein, beispielsweise einem Goldring aus dem Grab des Greifenkriegers.“
Elfenbeinring mit 119 Zeichen in Linearschrift A
„Der Elfenbeinring trägt eine lange Inschrift in Linearschrift A, die auf drei der vier Seiten klar erkennbar ist, wahrscheinlich aber auf allen vieren vorhanden war“, berichten die Forscher.
Die Symbole sind in Gruppen angeordnet, die durch senkrechte Linien voneinander getrennt sind. Insgesamt sind auf dem Elfenbeinring 119 Linear-A-Zeichen erhalten – 84 nahezu vollständig und 35 in Teilen.
„Damit ist dies die längste bekannte Inschrift in Linear A.“ Die Gruppierung der Linear-A-Zeichen ist bisher einzigartig und findet sich auf keinem anderen bekannten Linearschrift-A-Text wieder.
Linear-A-Inschrift in kalligrafischem Stil
Eine weitere Besonderheit ist der Stil der Inschrift: „Es gibt nur wenige Linear-A-Inschriften, selbst unter den qualitativ hochwertigen, deren Zeichen so lebensecht, so kunstvoll und fast dreidimensional ausgeführt wurden“, betont Kanta. „Wir sehen hier zum ersten Mal eine Linear-A-Inschrift, die vorwiegend in einem kalligrafischen Stil eingeritzt wurde. Das ist ein neues Schlüsselmerkmal, das für paläografische Studien wichtig sein könnte.“
Die Linear-A-Symbole wechseln sich mit Abschnitten ab, die stilisierte Tierfiguren, Gefäße oder Textilien zeigen. „Die Art und Zahl dieser Tiere könnten die Gaben anzeigen, die bei rituellen Festen geopfert wurden.“
Auch die Gefäße – Dreifüße, Amphoren und Rhyta – scheinen den Archäologen zufolge klar rituelle Funktionen zu haben. Zur Info: Ein Rhyton ist ein einhenkeliges Gefäß zum Ausgießen von Trankopfern.
„Die Ikonografie und die Schrift sind Teil desselben Narrativs. Dieses könnte die Bestandteile einer Zeremonie oder einer religiösen Feier beschreiben“, schreiben die Wissenschaftler.
Neuer Ansatz zur Entschlüsselung
Nach Einschätzung der Archäologen könnte der neue Fund wichtige Ansatzpunkte für die Erforschung und mögliche Entzifferung der minoischen Linearschrift A liefern. Aus der Spätphase der minoischen Kultur sind ganz ähnliche Auflistungen von Ritualzutaten in der einzigen bisher entschlüsselten Minoerschrift erhalten: der Linearschrift B.
Sie wurde wahrscheinlich von der benachbarten Kultur der Mykener entwickelt. Diese nutzten Zeichen der Minoer und notierten damit ihre eigene, frühgriechische Sprache.
Der Vergleich der Ritual-Listen A und B könnte daher helfen, die Bedeutung der rätselhaften Linearschrift-A-Zeichen zu enträtseln. „Die kurze Beschreibung dieser Inschriften in unserem Artikel können nur eine erste Idee der Informationen geben, die diese Funde zur Erforschung der kretischen Schriften beitragen“, schreiben die Archäologen.
Info: Bronzezeitliche Kultur der Minoer
König Minos Die bronzezeitliche Kultur Kretas wird nach dem mythischen König Minos als minoisch bezeichnet. Die Kultur der Minoer ist die früheste Hochkultur Europas und wird unterteilt in eine Frühminoische Zeit (2600 bis 1900 v. Chr.), Mittelminoische Zeit (1900 bis 1600 v. Chr.) und Spätminoische Zeit (1600 bis 1450 v. Chr.). Ihr Einflussgebiet erstreckte sich auf die Inseln Kreta und Santorini sowie den Großteil der Ägäis.
Hochkulturen Das östliche Mittelmeer war bereits in der frühen Antike ein Zentrum der ersten Hochkulturen und von Seehandel zwischen der Ägäis, Kleinasien und dem Nahen Osten geprägt. Die Schiffe hatten Kupfer aus Zypern sowie Zinn aus Westeuropa und Zentralasien geladen, die sie in die Städte der Minoer auf Kreta, der Mykener in Griechenland, der Hethiter in Kleinasien und zu den Häfen Ägyptens brachten