Kann man ein Kind verwöhnen?

Sollte man Kindern jeden Wunsch von den Lippen ablesen? Expertinnen erklären, wie man auf die Bedürfnisse der Kleinen eingeht und wann man sie in ihrer Selbstständigkeit bestärken sollte.

Nataša Hufen (links) und Julia Schmidt sind systemische Kinder- und Jugendtherapeutinnen im Backnanger Famfutur. Foto: Famfutur

Nataša Hufen (links) und Julia Schmidt sind systemische Kinder- und Jugendtherapeutinnen im Backnanger Famfutur. Foto: Famfutur

Von Simone Schneider-Seebeck

Rems-Murr. In der Bibel steht: „Wer seine Kinder liebt, der züchtige sie.“ Es ist noch gar nicht so lange her, da wurde Wissen in der Schule mit Hilfsmitteln wie dem Rohrstock eingebläut. Und erst seit 2001 ist das Recht auf gewaltfreie Erziehung im Bürgerlichen Gesetzbuch verankert. Hat sich mittlerweile auch (zumindest fast überall) durchgesetzt, dass Schlagen kein Erziehungsmittel sein darf, so herrscht doch noch eine gewisse Verunsicherung bei der Frage, wie es mit dem Verwöhnen aussieht. Niemand möchte doch kleine Monster heranziehen, die nur mit dem Finger zu schnippen haben (oder auch laut kreischen), wenn ihnen einmal ein Wunsch nicht erfüllt wird – oder?

Was überhaupt bedeutet denn „verwöhnen“? Interessanterweise liefert der Duden hierzu zwei recht gegensätzliche Definitionen. Einerseits heißt es: „Durch besondere Aufmerksamkeit, Zuwendung dafür sorgen, dass sich jemand wohlfühlt.“ Und andererseits: „Jemanden durch zu große Fürsorge und Nachgiebigkeit in einer für ihn nachteiligen Weise daran gewöhnen, dass ihm jeder Wunsch erfüllt wird.“ Erzieht man sich also kleine Tyrannen heran, wenn man auf jeden Unmutslaut der Kleinen reagiert?

Nataša Hufen und Julia Schmidt, systemische Kinder- und Jugendtherapeutinnen im Backnanger Famfutur, haben dazu eine ganz klare Ansicht: „Im ersten Lebensjahr kann man ein Kind nicht verwöhnen.“ Denn die Kleinen äußern sich bedürfnisorientiert – und da sie sich im ersten Lebensjahr für gewöhnlich noch nicht anders artikulieren können, wird eben geschrien. Die unterschiedlichen Ratschläge, die Mütter bezüglich des Verhaltens gegenüber ihren Kleinen im ersten Lebensjahr erhalten, helfen oft nicht, im Gegenteil. Oft stehen sie unter einem großen Erwartungsdruck von außen, würden dadurch verunsichert und hörten nicht mehr auf den eigenen Instinkt.

Babys sind darauf angewiesen, dass ihre Bedürfnisse erkannt werden

„Von der Entwicklungspsychologie her gibt es bestimmte Marker in der kindlichen Entwicklung“, erklärt Nataša Hufen. „Im ersten Lebensjahr wird Vertrauen aufgebaut.“ Soll heißen: Das Baby, das noch nicht sprechen kann, muss nonverbal seine Bedürfnisse vermitteln und ist darauf angewiesen, dass seine Bezugspersonen diese erkennen und auch umsetzen.

In diesem Alter kennt das Baby weder „Ich“ noch „Du“. Daher ist es auch noch gar nicht in der Lage, andere zu manipulieren. Ist es allein und schreit und keiner kommt, dann führt dies zu Resignation und zur Erkenntnis: „Es lohnt sich nicht zu schreien, denn es kommt keiner.“ Eine negative Lernerfahrung ist das Ergebnis, Vertrauen wird erschüttert, das Stresslevel steigt. Die Folge können später Selbstzweifel an der eigenen Person und Trotz sein.

Erst im Lauf der Zeit verstehen Kinder das Konzept „Ich – Du“. Erst wenn dieses Konzept verstanden wurde, entwickele das Kind die Idee, dass es auch andere außer ihm gebe, erläutert die Therapeutin.

„Im ersten Lebensjahr gibt es daher kaum etwas, das man zu viel tun kann“, erläutern die Expertinnen. Das gelte für jede Bezugsperson des Kindes.

„Im ersten Lebensjahr werden die Weichen für ein Grundvertrauen gestellt“, so Nataša Hufen und Julia Schmidt. Und dies bilde sich auch im kindlichen Gehirn ab. Je nachdem greifen dann die nachfolgenden Entwicklungsphasen auf eine unterschiedliche Basis zurück. Die Rolle der Bezugspersonen ist daher für das ganze spätere Leben essenziell: Hat man gelernt, dass man sich auf jemanden verlassen kann, oder nicht?

Liebevolle Fürsorge bedeutet nicht, alles abzunehmen

Zudem müsse man sich vergegenwärtigen, dass ein kleines Kind nicht schreit oder nachts öfter aufwacht, um seine Eltern zu ärgern. Es könne beispielsweise daran liegen, dass das Kind noch nicht verarbeitet habe, was es tagsüber erlebt habe. Dennoch bedeutet liebevolle Fürsorge nicht, einem Kind alles abzunehmen. Je nach Entwicklung seien ihm durchaus gewisse Lernprozesse und Erfahrungen zuzumuten. Sonst glaube es, dass stets jemand dafür sorge, dass alles klappt. „Es ist wichtig, Kinder machen zu lassen und sie dabei mit etwas Abstand zu begleiten“, rät Julia Schmidt. „Wie viel Vertrauen habe ich als Erwachsener in die Fähigkeiten des Kindes?“

In der Trotzphase lasse sich gut beobachten, dass das Kind vieles „allein“ versuchen wolle. Es sammle dadurch Erfahrungen in Bezug auf seine Selbstwirksamkeit. Hilfreich sei es da, das Kind zu unterstützen, auch wenn das oft Zeit kostet. Gibt man dem Kind alles vor, so nehme man ihm die Möglichkeit, eigene Erfahrungen zu machen. Ein übergroßes Bedürfnis, das Kind zu schützen, helfe ihm schlussendlich nicht. Vielmehr sei es wichtig, die Bedürfnisse des Kindes ernst zu nehmen, auch wenn es etwas nicht wolle. Die Grenzen, die es aufzeige, solle man respektieren. Das fördert auch das Selbstbewusstsein.

Verwöhnung kann die Entwicklung des Selbstbewusstseins behindern

Erzieherin Kathrin Schmidt aus Kirchberg an der Murr hat in ihrer langjährigen Berufserfahrung schon einige Fälle von übermäßiger Fürsorglichkeit erlebt. Daher ist für sie ganz klar: „Verwöhnt werden Kinder, wenn man ihnen alles abnimmt, sodass sie selbst nichts machen müssen.“ Einen Gefallen tun die Eltern den Kleinen dadurch nicht, im Gegenteil: So etwas führe oft zu Frust und stehe der Entwicklung des Selbstbewusstseins entgegen. Etwa wenn das Kind sich im Kindergarten allein anziehen müsse und das nicht hinbekomme. Dem Kind zudem stets Entscheidungen abzunehmen könne dazu führen, dass es später gar nicht in der Lage ist, selbst Entscheidungen zu fällen.

Kritisch sieht sie das Verwöhnen durch materielle Dinge. Ihrer Erfahrung nach werden Kinder dadurch oft ruhiggestellt. Dem Kind werde so suggeriert, dass es immer erhalte, was es sich wünscht. Und das sei keine gute Vorbereitung auf das spätere Leben. Denn es lerne: „Die Eltern machen alles, was ich will, damit ich ruhig bin.“ Doch ist es einmal älter, geht es mitnichten so zu.

Sich selbst etwas erarbeiten, eigene Erfahrungen zu machen, das stärkt das Selbstvertrauen, sind sich die Expertinnen einig. Dem Kind seine Liebe zu zeigen und auf seine Bedürfnisse zu zeigen ist ebenso essenziell „Traut euren Kindern etwas zu, habt Vertrauen in ihr Können“, so Nataša Hufen und Julia Schmidt.

Schlechte Ratgeber wirkten noch lange nach

Ratgeber Ein Klassiker für ratsuchende Eltern, der immer noch empfehlenswert ist und „Partei für die Kinder nimmt“, wie Julia Schmidt sagt: „Remo Largo. Babyjahre“. In diesem Buch wird insbesondere auf die biologische Kindesentwicklung eingegangen und so das kindliche Verhalten gut erklärt.

Nationalsozialistisches Erbe Die Furcht vor dem verwöhnten Kind hat ihre Wurzeln in Erziehungsmodellen sogenannter schwarzer Pädagogik, gut zusammengefasst etwa in Johanna Haarers Werk „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“. 1934 von der überzeugten Nationalsozialistin und Lungenfachärztin geschrieben wurde es noch bis 1987, wenn auch abgemildert, verlegt. So riet Johanna Haarer den Müttern beispielsweise: „Auch das schreiende und widerstrebende Kind muss tun, was die Mutter für nötig hält, und wird, falls es sich weiterhin ungezogen aufführt, gewissermaßen ‚kaltgestellt‘, in einen Raum gebracht, wo es allein sein kann, und so lange nicht beachtet, bis es sein Verhalten ändert. Man glaubt gar nicht, wie früh und wie rasch ein Kind solches Vorgehen begreift.“

Nachwirkungen Diese Ratschläge wirkten zum Teil noch jahrzehntelang fort und erschwerten nachfolgenden Elterngenerationen, eine gute Bindung zu den eigenen Kindern aufzubauen, wie etwa Karl Heinz Brisch, Facharzt für Kinder und Jugendpsychiatrie und Professor an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität (PMU) in Salzburg, weiß.

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Erstellt:
28. Dezember 2023, 09:30 Uhr

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