Schach-WM 1984
Kasparow gegen Karpow: Rebell gegen das System
Die Schach-Weltmeisterschaft vor 40 Jahren ist ein Wettkampf der Systeme. Der Streit dreht sich nicht nur um Ideen auf dem Brett, sondern auch in der Politik - und er dauert bis heute an.
Von André Ballin, dpa
Moskau - Es ist ein sonniger Tag, als am 10. September 1984 die beiden Anwärter auf die Weltmeisterschaft im Schach am Haus der Gewerkschaften in Moskau vorfahren: Anatoli Karpow, der seit zehn Jahren amtierende Titelträger, und sein erst 21 Jahre alter Herausforderer Garri Kasparow. Der Austragungsort mit seinem pompösen Säulensaal neben dem Bolschoi-Theater und schräg gegenüber dem Kreml ist legendär - zu Sowjetzeiten wurden dort große Konzerte und Parteitage veranstaltet, aber auch die Schauprozesse unter dem Diktator Josef Stalin.
Vor dem Gebäude haben sich viele Menschen versammelt. Das Interesse an der WM ist groß. Schach ist eine Art Volkssport in der Sowjetunion und dient der politischen Führung auch als Beweis für die intellektuelle Überlegenheit des sozialistischen Systems. Groß war der Schock, als zwölf Jahre zuvor der US-Amerikaner Robert Fischer die Phalanx sowjetischer Siege durchbrach. Und umso größer die Wertschätzung für Karpow, der den Titel 1975 wieder zurück nach Moskau holte - wenn auch kampflos, da Fischer sich weigerte, unter regulären Bedingungen anzutreten.
Für den WM-Titel bekommt Karpow einen Orden von Staats- und Parteichef Leonid Breschnew. "Wenn du die Krone errungen hast, halt sie fest!", sagt Breschnew dabei. Damit ist Karpow auch die bedingungslose Unterstützung vieler Schachfunktionäre bei den Titelverteidigungen gewiss - zumal es zunächst zweimal gegen den ins Ausland geflüchteten Dissidenten Viktor Kortschnoi geht.
Das Idealbild eines Sowjetbürgers
Karpow verkörpert das Idealbild des Sowjetbürgers. Er stammt aus einer Arbeiterfamilie im Ural, ist zurückhaltend, schüchtern und zu 100 Prozent linientreu. Auch am Brett kontrolliert er seine Emotionen. Karpow beherrscht das Stellungsspiel hervorragend, häuft kleine Vorteile an und erdrückt seinen Gegner oft förmlich. Große Risiken geht er in den Partien nicht ein, aber Fehler bestraft er sehr präzise.
Kasparow ist das Gegenteil - am Brett beeindruckt er mit kraftvollen Angriffen, mit der er die Stellung seiner Gegner zerstört. Außerhalb des Schachs eckt der brodelnde Vulkan mit seinem Temperament immer wieder an. Immerhin hat der in Baku als Garik Weinstein geborene Sohn einer Armenierin und eines Juden mit Heydar Aliyev, dem Parteichef von Aserbaidschan, auch einen mächtigen Gönner. Und doch gilt er als Rebell, verkörpert mit seiner Aufmüpfigkeit schon den Geist der ein Jahr später unter Parteichef Michail Gorbatschow einsetzenden Perestroika.
Kasparow beginnt schlecht
Das Match beginnt denkbar schlecht für den heißblütigen Kaukasier. In der auf sechs Gewinnpartien angelegten Auseinandersetzung - Unentschieden zählen nicht - liegt er nach nur neun Partien mit 0:4 hinten. Er habe Karpow unterschätzt, gibt er rückblickend zu. Seine bisherigen Gegner hatten nicht die Zähigkeit und Ausdauer des Weltmeisters. Sie brachen unter Kasparows Attacken zusammen, Karpow kontert eiskalt.
Also ändert Kasparow seine Taktik. Statt bedingungslos auf Sieg spielt er nun auf Remis, um Zeit zu gewinnen. Das Kalkül geht auf. Zwar gewinnt Karpow auch noch die 27. Partie, doch der Ältere wirkt zunehmend ausgelaugt. Der Wettkampf zieht sich über Monate und plötzlich hat Kasparow sein erstes Spiel gewonnen. Dann siegt er in der 47. und 48. Partie gar zweimal hintereinander, verkürzt auf 3:5 - und das Match wird völlig überraschend abgebrochen.
Überraschender Abbruch
Der Chef des Schachweltverbandes FIDE Florencio Campomanes begründet dies mit der Sorge um die Gesundheit der Spieler. Doch bis heute liegen die wahren Motive im Dunkeln, die FIDE ist zu jener Zeit stark vom sowjetischen Verband abhängig. Beide Spieler fühlen sich benachteiligt. Es ist jedoch Kasparows Protest, der im Gedächtnis bleibt. Wutentbrannt springt er auf die Tribüne und spricht von einem Spektakel, das Karpow den Titel retten soll. Erstmals geht ein sowjetischer Schachspieler offen in einen Konflikt mit den mächtigen Funktionären des Verbands.
Ein gefährlicher Affront - doch für Kasparow endet er siegreich. Der WM-Kampf wird 1985 neu angesetzt, auf 24 Partien begrenzt - und diesmal siegt Kasparow mit 13:11. Er ist neuer Weltmeister. Dreimal verteidigt er bis 1990 seinen Titel gegen den Dauerkonkurrenten, dann scheidet er im Streit aus der FIDE aus. Er revolutioniert das Schach, gründet einen eigenen Profiverband und spielt die ersten Matches gegen Schachcomputer. Erst im Jahr 2000 verliert er den Titel an den wesentlich jüngeren Wladimir Kramnik.
In Opposition zu Putin
Zu der Zeit interessiert sich Kasparow längst schon für die große Politik. In den 1990er Jahren unterstützt er Russlands Präsident Boris Jelzin, doch dessen Nachfolger Wladimir Putin kritisiert er scharf für die zunehmend autoritäre Politik. Kasparow engagiert sich bei der liberalen Opposition um Boris Nemzow und will 2008 bei der Präsidentenwahl antreten. Doch als Politiker ist er nicht annähernd so erfolgreich wie als Schachspieler. Bei Protesten wird er festgenommen. Ausgerechnet Karpow bringt ihm Essen in die Arrestzelle.
Schließlich flieht Kasparow aus Russland, weil er keine Chance auf schnelle Veränderungen sieht und Strafverfolgung fürchten muss. Hart kritisiert er Putin und dessen Krieg gegen die Ukraine. In Russland wird das allerdings kaum noch wahrgenommen.
Ex-Weltmeister sitzt immer noch in der Staatsduma
Und Karpow? Der inzwischen 73-Jährige ist weiterhin der Kandidat der Obrigkeit. Seit 2011 sitzt er in der kremltreuen Duma und trägt alle deren Gesetze mit. Leise Kriegskritik zu Beginn verstummt schnell nach einem ominösen häuslichen Unfall. Nach Putins Wiederwahl Anfang des Jahres gratuliert er artig auf seinem Telegramkanal. Die EU hat Karpow mit Sanktionen belegt, doch in Russland ist er weiter gut im Geschäft. Selbst einen Film hat Moskau über ihn gedreht. In "Weltmeister" ist Karpow natürlich der Sieger gegen einen hinterhältigen Kortschnoi, und die Sowjetunion wird zum nostalgischen Sehnsuchtsort verklärt.