Knäsche lässt sich nicht verbiegen

: Die Olympischen Spiele 2024 beginnen in einem Monat. In unserer Serie haben wir Athletinnen und Athleten aus der Region vorgestellt, die dort dabei sein wollen. Zu ihnen gehört eine Stabhochspringerin, die ihren eigenen Weg geht.

 

© imago//Chai von der Laage

Von Jochen Klingovsky

Stuttgart - Stabhochsprung ist eine enorm komplexe Leichtathletik-Disziplin. Schneller Anlauf, perfekter Einstich, turnerisches Können, das Gefühl für die Höhe, viel Mut – es gehört einiges dazu, um weit nach oben zu kommen. Für Anjuli Knäsche ist noch eine weitere Eigenschaft wichtig: die Haltung. Die 30-Jährige vom VfB Stuttgart ist eine Stabhochspringerin, die sich nicht verbiegen lässt. Auch dann nicht, wenn es um die Teilnahme an den Olympischen Spielen geht. „Diese Veranstaltung hat für die Gesellschaft einen enormen Stellenwert“, sagt Anjuli Knäsche, „aber ich springe nicht wegen der Aufmerksamkeit oder um irgendwelche gesellschaftlichen Vorstellungen zu erfüllen. Sondern weil ich Bock dazu habe.“ Und weil sie es kann – auf ihre Art.

Eigentlich hatte Knäsche schon abgeschlossen mit dem Hochleistungssport. Sie gehörte zu den besten Deutschen, setzte sich selbst unter großen Druck, richtete den vollen Fokus auf den Sport, verpasste aber die Heim-EM 2018 in Berlin. Und fühlte sich gefangen in einem System, das sie einengte, statt ihr zu ermöglichen, sich frei zu entfalten. Sie verlor die Motivation und verabschiedete sich – aber nur vorübergehend.

Vor dreieinhalb Jahren orientierte sich Knäsche neu. Sie zog aus dem hohen Norden in die Region Stuttgart, übernahm bei der LG Leinfelden-Echterdingen eine Vollzeitstelle als Cheftrainerin, zu der auch Aufgaben im Schulsport gehören. Seither kümmert sie sich in dem Verein um alle Altersklassen und Leistungsniveaus, sie organisiert, gestaltet, plant, geht voran. Und hat nebenher, auch für Talente aus umliegenden Clubs, ehrenamtlich noch eine Stabhochsprung-Fördergruppe aufgebaut. Bei der Arbeit hilft ihr, dass sie viele Probleme und Herausforderungen, vor denen der Nachwuchs steht, selbst erlebt hat – „und gleichzeitig geben mir die Kinder enorm viel zurück“. Unter anderem die Lust auf Stabhochsprung.

Im Januar 2022 wagte Anjuli Knäsche die ersten zaghaften Versuche, im Sommer darauf stellte sie mit 4,55 Meter ihre persönliche Bestleistung ein, wurde erstmals deutsche Meisterin und schaffte den Sprung zur EM in München. Als einzige Athletin, die eine 39,5-Stunden-Woche als Trainerin hat, für die Teilnahme an Großereignissen Urlaub nehmen muss, in ihrer Freizeit Talente fördert und erst an ihrer eigenen Leistung arbeitet, wenn alle anderen Aufgaben erledigt sind. „Ich habe auf krasse Weise gelernt, maximal flexibel zu sein“, sagt sie, „das ist sicher nicht der Standardweg. Aber es ist der Weg, den ich für mich gefunden habe.“ Allen Widerständen zum Trotz.

2023 sprang Anjuli Knäsche 4,50 Meter, verteidigte ihren DM-Titel, war bei der WM in Budapest – und flog im Herbst aus dem Kader des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV). Seitdem erhält sie keine Förderung mehr, sondern arbeitet auch, um sich ihren Sport leisten zu können. Und wenn sie bei wichtigen Wettkämpfen ihren Heimtrainer Stephan Munz dabeihaben will, muss sie das selbst finanzieren. Trotzdem wurde sie im DLV-Trikot zuletzt Elfte bei der EM in Rom. „Grundsätzlich ist mir die Kaderstruktur komplett egal“, sagt Anjuli Knäsche, die seit dieser Saison für den VfB Stuttgart startet, was ihr wenigstens ein bisschen Rückhalt garantiert, „ich bin froh, finanziell unabhängig und niemand Rechenschaft schuldig zu sein. Dennoch wäre es schön, vom Verband etwas mehr Unterstützung und Wertschätzung zu erhalten.“ Zumal es nun sogar auf die ganz große Bühne gehen könnte.

Die Olympia-Direktnorm von 4,73 Meter wird Anjuli Knäsche bei der deutschen Meisterschaft am Wochenende in Braunschweig sicher nicht springen können. Trotzdem ist es sehr gut möglich, dass sie sich über die Weltrangliste für Paris qualifiziert. Als Genugtuung würde sie das nicht empfinden – aber nur, weil sie in diesen Kategorien nicht denkt. „Bei den Olympischen Spielen dabei sein zu können wäre cool, denn ich habe alles andere als perfekte Bedingungen. Ich würde dieses Erlebnis genießen“, sagt sie, „trotzdem würde es nichts an meiner Situation ändern – ein wichtiger Teil meines Lebens ist der Sport, aber Sport ist nicht mein Leben. Etwas zu erzwingen, das habe ich mir abgewöhnt.“

Weil sie sich sonst verbiegen müsste. Und darauf hat Anjuli Knäsche, die Stabhochspringerin mit Haltung, schon lange keine Lust mehr.

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Erstellt:
25. Juni 2024, 22:08 Uhr
Aktualisiert:
26. Juni 2024, 22:04 Uhr

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