Kommt der Brexit Ende Oktober?
Premierministerin May tritt in neue Verhandlungen mit der britischen Opposition, um ihren Brexit-Deal durchs Parlament zu kriegen
Die Briten werden voraussichtlich an der Europawahl teilnehmen. Viel Einfluss auf Zukunftsentscheidungen sollen sie nicht haben, da bis zum neuen Austrittstermin keine wichtigen Entscheidungen im Parlament anstehen.
Brüssel/London In der Nacht zum Donnerstag haben die Staats- und Regierungschefs der EU beschlossen, dem Vereinigten Königreich mehr Zeit mit dem Austritt aus der europäischen Gemeinschaft zu geben. Damit wurde ein chaotischer Brexit zunächst abgewendet. Ohne den Gipfelbeschluss wäre es dazu am Freitag um 0 Uhr Brüsseler Zeit gekommen.
Frage: Wann findet der Brexit nun statt?
Antwort: Grundsätzlich ist jetzt der 31. Oktober als spätestes Datum für den Austritt angepeilt. Bis dahin gibt es aber noch weitere Varianten. Angestrebt wird, dass die britische Premierministerin Theresa May es noch schafft, eine Mehrheit im britischen Unterhaus für den Austrittsvertrag zwischen ihrem Land und der EU zu organisieren. In diesem Fall würde das Land austreten, wenn das Parlament den Austrittsvertrag ratifiziert hat. Und zwar am ersten Tag des darauffolgenden Monates. Nach einem Beschluss des Parlaments ist für den Ratifizierungsprozess noch einmal ein Zeitraum von rund acht Wochen einzuplanen. Es könnte aber auch zum Austritt am 1. Juni kommen. In den Gipfelbeschlüssen gibt es eine Sicherungsklausel im Zusammenhang mit der Europawahl: Sie sieht vor, dass das Vereinigte Königreich am 1. Juni aus der EU austritt, wenn es nicht dazu in der Lage ist, die Europawahl (23. bis 26. Mai) ordnungsgemäß abzuhalten. Hintergrund ist: Brüssel muss sicherstellen, dass in jedem Land, das Mitglied der EU ist, Europawahlen abgehalten werden. Finden sie nicht statt, können Beschlüsse des Europaparlaments angefochten werden. Das ordnungsgemäße Funktionieren der EU, ihres Gesetzgebungsapparates und der anderen Institutionen wäre in Gefahr.
Frage: Ist der 31. Oktober das letzte Wort der EU?
Antwort: Das muss es nicht sein. Angesichts der verfahrenen innenpolitischen Lage in Großbritannien räumte EU-Ratspräsident Donald Tusk noch in der Nacht ein, dass er eine weitere Verschiebung für möglich hält. „Ich bin zu alt, um ein anderes Szenario auszuschließen.“ Er sagte, er glaube, weiterhin sei alles möglich. Also auch eine weitere Fristverlängerung, ein zweites Referendum oder das Zurückziehen des Austrittsantrags.
Frage: Was heißt der Aufschub für die Europawahl?
Antwort: Schon jetzt ist klar, dass das Land an der Europawahl teilnehmen muss. Selbst wenn das Parlament dem Austrittsvertrag zustimmen würde, reichte nicht mehr die Zeit für die Ratifizierung bis zum 22. Mai. Ohne Ratifizierung müssen die Briten teilnehmen. Nehmen sie teil, so wird das Europaparlament nicht wie geplant verkleinert, von 751 auf 705 Sitze. Die britischen Abgeordneten werden aber voraussichtlich nur für wenige Monate Mitglied sein. Das Parlament kommt erstmals im Juli zusammen. Gesetze werden in absehbarer Zeit nicht verabschiedet. Als wichtige Entscheidung steht aber an, dass das Parlament sich auf einen Kandidaten für den Posten des Kommissionspräsidenten einigen muss.
Frage: Dürfen die Briten nach der Europawahl noch mitstimmen?
Antwort: Es gibt keine EU-Mitgliedschaft zweiter Klasse. Wer drin ist, darf auch mitbestimmen. Allerdings ist nicht vorgesehen, dass die Briten einen Kommissar für die nächste Kommission benennen. Es gibt Drohungen von Brexit-Anhängern, den EU-Betrieb zu torpedieren, sollte das Land über den ursprünglich ersten Austrittstermin noch Mitglied der Gemeinschaft bleiben. Dagegen versucht sich Brüssel zu wappnen. Laut Gipfeldokument habe London zugesichert, in der Verlängerung „getreu der Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit zu handeln“. Außerdem werde das Land eine Rolle spielen, „die seine Situation als austretender Mitgliedstaat widerspiegelt“. Bis zum 31. Oktober ist es ohnehin unproblematisch, weil der EU-Betrieb bis dahin noch nicht wieder richtig Fahrt aufnimmt. Im Rat steht die Entscheidung an, wen das Gremium der Mitgliedstaaten dem Parlament als Kommissionspräsidenten vorschlägt. Dabei wäre der Einfluss Londons ohnehin überschaubar: Die Entscheidung der Staats- und Regierungschefs muss nicht einstimmig fallen, eine Mehrheit reicht.
Frage: Wer hat sich in der Nacht durchgesetzt?
Antwort: Es handelt sich um einen klassischen Brüsseler EU-Kompromiss. Deutschland und Frankreich waren sich nicht einig. Wie so häufig. Und am Ende einigten sie sich in der Mitte, und die anderen machten mit. Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron wollte die Briten früher aus der EU drängen. Macron brachte dafür den 7. Mai ins Gespräch. Sein Motiv dafür dürften auch Überlegungen im Zusammenhang mit der Europawahl sein. Nehmen die Briten nicht an der Europawahl teil, dann würde ein Teil der 73 Sitze, die die Briten jetzt haben, auf andere Mitgliedstaaten verteilt. Frankreich würde fünf Sitze mehr im Straßburger Parlament haben. Macron sorgt sich offensichtlich um seinen Einfluss im Parlament. Bislang ist seine Bewegung, Europe en Marche, da noch gar nicht vertreten. Wie viele Kandidaten einziehen werden, ist unklar. Die Bundesregierung hat Ende des Jahres als neuen Austrittstermin favorisiert. Berlin wollte damit den Briten noch genug Zeit einräumen, die Brexit-Strategie komplett zu ändern, womöglich ein neues Referendum abzuhalten und den Austrittsantrag zurückzuziehen.
Frage: Wie geht es in Großbritannien nun weiter?
Antwort: Der politische Streit über den EU-Austritt geht unverändert heftig weiter. May sagte am Donnerstag im Parlament in London weitere Gespräche mit der Opposition zu. Doch Labour-Chef Jeremy Corbyn zeigte sich unnachgiebig. Forderungen nach einer zweiten Volksabstimmung erteilte sie eine Absage. Corbyn will eine weichere Form des Brexits mit Zollunion und engerer Anbindung an die EU. Das lehnen Hardliner in Mays Konservativer Partei ab.