Kretschmann erntet Protest für Äußerungen zu Lehrerstellen

dpa/lsw Stuttgart. Die Zahl der Lehrer im Südwesten ist in den vergangenen Jahrzehnten kräftig gestiegen - bei sinkenden Schülerzahlen. Aber macht das den Unterricht besser? Winfried Kretschmann, Ministerpräsident und Ex-Lehrer, findet: Nein, tut es nicht. Die Verbände sind stinksauer.

Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Foto: Bernd Weißbrod/dpa/Archivbild

Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Foto: Bernd Weißbrod/dpa/Archivbild

Mehr Lehrer sind aus Sicht von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) keine Garantie für bessere Bildung. „Viel hilft nicht viel. Es kommt immer auf Qualität an“, sagte Kretschmann der Deutschen Presse-Agentur in Stuttgart. Die Qualitätsinstitutionen, die die ehemalige Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) in der vergangenen Legislaturperiode geschaffen hat, müssten nun in Gang kommen.

„Was ist mit der Lehrerfortbildung? Was ist mit der Qualitätssicherung? Wie etablieren wir ein Bildungsmonitoring?“, fragte Kretschmann. Die Bildungsverbände im Land weisen die Äußerungen scharf zurück - und kritisieren einen Mangel an Lehrern.

Niemand könne heute noch so unterrichten wie vor 40 Jahren, die Welt habe sich verändert, räumte Kretschmann ein, der nach seinem zweiten Staatsexamen 1977 selbst als Lehrer in Baden-Württemberg unterrichtete. „Das ist alles aufwendiger und komplizierter geworden - die Heterogenität, also die Notwendigkeit für individuelle Förderung, hat stark zugenommen.“ Kretschmann sprach unter anderem von einem riesigen Migrantenanteil. Das erfordere alles mehr Lehrerinnen und Lehrer, ohne dass es dadurch gleich besser werde.

Auch die Klassengröße sagt nach Meinung des grünen Regierungschefs nichts über die Qualität des Unterrichts aus. „Bei kleinen Klassen wissen wir aus der Wissenschaft, dass es kein belastbares Kriterium für Erfolg ist.“ Es müsse stets auf die Qualität geachtet werden.

Die Zahl der sogenannten Vollzeitlehrereinheiten an allgemeinbildenden Schulen im Südwesten stieg nach Angaben des Statistischen Landesamts in den letzten 30 Jahren um rund 11 500 auf derzeit 82 961. Die Schülerzahl an allgemeinbildenden Schulen sinkt hingegen seit 16 Jahren in Baden-Württemberg kontinuierlich.

Die Bildungsverbände haben trotzdem überhaupt kein Verständnis für die Äußerungen des Regierungschefs. „Herr Kretschmann ist in der Lehrerbedarfsplanung so gut wie ein Ziegelstein im Schwimmen“, sagte der Landesvorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung (VBE), Gerhard Brand. Er wundere sich angesichts der Äußerungen, warum das Land dann nicht in der Lage sei, den Pflichtbereich im Grundschulunterricht sicherzustellen.

Auch im Sekundarbereich fehlten je nach Fach Lehrer, etwa bei den sogenannten MINT-Fächern. Freiburg müsse sich um Lehrer zwar keine Sorgen machen, sagte Brand. „Aber nach Waldshut-Tiengen will keiner.“

Ohne ausreichend Lehrer könne man zudem den Ganztag nicht ausbauen wie geplant, betonte Brand. Und: „Wir sind bei der Inklusion in den letzten Jahren keinen Meter vorangekommen.“ Es brauche dringend Sonderpädagogen, die für die Schüler da seien. Brand stimmte Kretschmann zwar zu, dass sich Unterricht verändert habe. Die Erziehungsarbeit an Schulen nehme zu. Aber er macht eine andere Gleichung auf als der grüne Regierungschef: „Mehr Lehrer bedeutet weniger Unterrichtsausfall, mehr Förderunterricht, mehr Sicherheit.“

Michael Hirn, der stellvertretende Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), spricht von einer „unterkomplexen Ansicht von Herrn Kretschmann“. „Wenn auf die wachsenden Aufgaben nicht mit genügend Personal reagiert wird, können die Lehrer die Aufgaben nicht erfüllen, weil sie schlicht überlastet sind.“ Quantität sei die Voraussetzung, dass Qualität in der Bildung umgesetzt werden könne.

Baden-Württemberg sei im Landesvergleich zudem immer noch auf Platz 16, was das Lehrer-Schüler-Verhältnis an Grundschulen angehe, kritisierte Hirn. Mit der Qualitätsdebatte wolle die Landesregierung von Problemen ablenken, die sie nicht löse - etwa die nötigen Stellen zu schaffen.

„Wer im Sommer 2021 mit solchen Aussagen auffällt wie der Ministerpräsident, hat den Bezug zum Alltag in unseren Schulen gänzlich verloren“, sagte SPD-Fraktionschef Andreas Stoch, der selbst einst Kultusminister im Südwesten war.

Baden-Württemberg stehe vor einem Schuljahr mit einem Rekordmangel in der Versorgung mit Lehrerinnen und Lehrern. Das bedeute Unterrichtsausfall: „Da geht es nicht um mehr oder weniger Lehrer, sondern um gar keine Lehrer.“ Dass es heute mehr Lehrer pro Schulkind gebe, sei gut und richtig, sagte Stoch. „Wir wollen keine Klassen mit 50 Kindern mehr.“

Das Institut für Bildungsanalysen (IBBW) und das Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL), auf die Kretschmann verwies, sollen den Schulunterricht im Südwesten verbessern. Die Institute gingen im Frühjahr 2019 an den Start. Das IBBW soll untersuchen, wie es um die Bildungsqualität bestellt ist - bis runter auf die einzelne Schule. Eine der Kernaufgaben soll die Erstellung von zentralen Prüfungen für die allgemeinbildenden und beruflichen Schulen sein.

Das ZSL soll unter anderem die Lehrerfortbildung verbessern, sich um die Erarbeitung von Bildungsplänen und die Zulassung von Schulbüchern kümmern. Zu Kretschmanns Verweis auf die Qualität sagte Stoch: „Selbst nach der allertollsten Fortbildung kann eine Lehrerin nicht an drei Orten gleichzeitig unterrichten.“

© dpa-infocom, dpa:210807-99-755593/5

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Erstellt:
7. August 2021, 11:08 Uhr

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