Krisen treffen die Armen besonders
Katja und Ernst Rath aus Murrhardt engagieren sich seit Jahrzehnten in Bulgarien. Dass sie und die Mitstreiter des Vereins Bulgarienhilfe ein Netz an Mitarbeitern und eine Logistik aufgebaut haben, hilft ihnen nun in der Pandemie.

Katja Rath verteilt in Bulgarien Plüschtiere. Die beliebten Kinderfreizeiten müssen wegen der Pandemie dieses Jahr pausieren. Fotos: privat
Von Christine Schick
MURRHARDT. Im aktuellen Newsletter des Vereins Bulgarienhilfe, in dem das Ehepaar Rath über Lage und Projekte berichtet, beschreibt eine junge Frau die Szene einer Begegnung, die selbst sie – obwohl sie Bulgarin ist – emotional mitnimmt. „Die Mutter öffnete die Tür, sie kam auf Knien daher, weil sie vor Wochen ihr Bein gebrochen hatte. Sie ging zu keinem Arzt und konnte von daher nicht mehr richtig gehen. Die Frau ist psychisch angeschlagen. Neben ihr stand der kleine Junge, helle ungekämmte und schmutzige Haare, große braune Augen, angezogen mit einem dünnen Hemd und Socken in Hausschuhen. Seine Lippen waren blau vor Kälte. Seine zitternden Hände waren zu einer Faust geballt. ,Kaufst du mir Brot?‘“
In der Schilderung wird deutlich, in welcher Armut die beiden leben, der Junge hat nur einen einzigen Traum – ein Stück Brot zu essen. Sie werden nun vom Verein unterstützt. Corona hat die Bedingungen im Land und für die Hilfe nicht einfacher gemacht. „Besonders für Tagelöhner ist es schwer, weil es weniger Arbeit gibt. Firmen pausieren oder entlassen auch Leute“, berichtet Ernst Rath. „Es trifft immer die Armen besonders hart.“ In einer Romasiedlung beispielsweise seien die Häuser sehr eng gebaut, und eine Familie lebe mit zehn Personen auch schon mal in anderthalb Zimmern. Er erzählt aber auch von Pastoren, die sich aus Unvorsichtigkeit mit Corona angesteckt hätten und gestorben seien, genauso wie von einem Mitarbeiter der Bulgarienhilfe, der als Leiter einer Druckerei mittlerweile viele seiner Arbeitsprozesse aus Vorsicht digital steuert.
Noch im September 2020 waren Katja und Ernst Rath aus Murrhardt gemeinsam in Bulgarien, um Hilfslieferungen zu begleiten. Obwohl sie extra einen damals noch recht teuren Coronatest gemacht hatten, wollte ihn auf der Fahrt durch Österreich dann doch keiner sehen. Im Moment würde eine Reise auch Quarantäne bedeuten, und die beiden sind froh, dass sie einerseits verlässliche Mitarbeiter und Strukturen haben, damit Hilfe vor Ort geleistet werden kann, andererseits auch Lkw-Transporte für humanitäre Zwecke trotz der Pandemie weiterlaufen können.
Neben Sachspenden von Kleidern, Schuhen, Bettwäsche bis hin zu Fahrrädern haben bisher auch die Freizeiten für Kinder eine wichtige Rolle gespielt, die sie regelmäßig angeboten haben. „Das wird im Sommer vermutlich noch nicht möglich sein“, sagt Ernst Rath. Mit ihnen pausiert ein zentrales Herzensprojekt, das sich der Annäherung von Kindern aus bulgarischen und Romafamilien verschrieben hat. Sie haben den Eindruck, dass die Skepsis mancher Eltern und Großeltern gegenüber den Roma sich gewandelt hat und die Kinder beziehungsweise Enkelkinder sozusagen als Botschafter in diesem Sinne wirken, da sie ganz selbstverständlich miteinander die Freizeit verbringen.
Die Eindrücke bei der Reise nach Bulgarien 1990 sind so nachhaltig, dass sich Rath weiter engagiert.
Rund die Hälfte der Mitarbeiter sind ebenfalls Roma, sodass sie innerhalb der Gemeinschaft Brücken bauen und Hilfe organisieren können, wo sie wichtig ist. Zur Romasiedlung Ichtiman heißt es im Newsletter: Dort „leben 30000 Roma, ein Teil davon in erbärmlichen und für uns unvorstellbaren Verhältnissen. Ein früherer Mitarbeiter der Kinderfreizeiten ist dort seit einigen Jahren von der Stadt angestellt und für die Integration der Roma zuständig. Über ihn und sein Team wird unsere Hilfe verteilt.“
Angefangen hat alles mit einer Fahrt 1990 nach Bulgarien. Ernst Rath begleitete damals seine beiden Neffen, die einen bulgarischen Studenten kennengelernt hatten und Hilfsgüter ins Land bringen wollten. „Die Menschen standen sechs Stunden für ein Brot an, Benzin und Diesel waren rationiert“, erinnert sich Ernst Rath. „Es waren kaum Autos auf der Straße, wie bei uns vielleicht noch in den 1960er-Jahren.“ Die Eindrücke und Begegnungen wirkten nach und er fragte sich: „War das alles?“ Es entwickelte sich ein Engagement, das sich auch aus seinem Glauben speist – die Bulgarienhilfe wird vom missionarischen Arbeitskreis evangelischer Christen getragen. „Wir wollen natürlich auch die Christen und evangelische Gemeinden unterstützen“, sagt er. Gleichzeitig betont Rath: „Geholfen wird aber allen.“

Ernst Rath (rechts oben) und seine Helfer bei der Arbeit.
Seit Bulgarien in der Europäischen Union ist, gehören Lebensmittel nicht mehr zu den Gütern, die die Bulgarienhilfe ins Land transportiert. „Unsere Mitarbeiter können das vor Ort kaufen“, sagt Rath. Wichtig sei vielmehr, dass diese wissen, wo die Not am größten ist, und das Notwendige „weise verteilen können“. Für bestimmte Bereiche, beispielsweise Romagemeinschaften, ist es wichtig, besagte Brückenbauer zu haben. Ernst Rath erinnert sich noch gut an den Besuch in einer Romasiedlung, in die sie nur mithilfe eines Pastors Einblick erhalten hätten. „Er war auch Catcher und insofern Respektsperson dort, sonst hätten wir das nicht machen können.“
Dass sie, sobald es möglich ist, wieder regelmäßige Touren nach Bulgarien machen, steht für die beiden außer Frage. Obwohl Ernst Rath schon lange im Ruhestand ist, freut sich der 81-Jährige, noch so aktiv sein zu können. „Die Gesundheit in meinem Alter ist ein Geschenk.“
Die humanitäre Hilfe startete 1991, neben der Unterstützung durch Sachspenden sind weitere Projekte die Kinderfreizeiten (seit 1998), eine Essensküche (2003) und die Aktion Weihnachtsfreude (2016). Auch Predigtdienste (1991) und der Druck von Losungsbüchern gehören zum Engagement.
Weitere Informationen zum Verein finden sich auf der Homepage unter der Adresse www.bulgarienhilfe.info.