Kühn, kernig, kraft- und kunstvoll

Serie: Bewegende Sportmomente In Backnang findet 1929 ein Artistenwettstreit statt

Was am 6. und 7. April 1929 im Festsaal des Bahnhofhotels geboten wurde, wie alteingesessene Backnanger das Bürgerhaus bis heute nennen, muss beeindruckend gewesen sein. Der Berichterstatter des Murrtal-Boten reihte nach dem „1. neuzeitlichen Wettbewerb in Artistik, Fangkunst, komisch-akrobatischen Vorführungen und Kunst-Gymnastik“ ein überschwängliches Lob ans andere.

Kühn, kernig, kraft- und kunstvoll

Von Steffen Grün

Das Blatt, das ein Vorläufer der heutigen Backnanger Kreiszeitung war, zitierte am 10. April 1929 das Motto der deutschen Kraftsportler: „Kühn, kernig, kraftvoll, kunstvoll.“ Offenbar waren Alliterationen schon damals ein beliebtes Stilmittel. Bei früheren Veranstaltungen habe der 1920 gegründete Kraftsportverein Backnang, aus dem später die TSG Schwerathletik hervorgegangen ist, „schon bewiesen, daß die im Deutschen Athletiksportverband betriebenen Sportarten kühn, kernig und kraftvoll sind“. Nun sei es dem Verein darüber hinaus „gelungen, der Einwohnerschaft von hier und Umgebung zu zeigen, daß im Deutschen Athletiksportverband auch Uebungen trainiert werden, die über allen Zweifeln stehend, kunstvoll wirken“.

Wie es zu diesem Artistenwettstreit im Bahnhofhotel kam und welche Bedeutung ihm mitsamt einer zweiten Show rückblickend von den sogenannten Amateurakrobaten beigemessen wurde, schilderte Otto Gier von den Rondos in einem sehr detaillierten Beitrag über diese legendäre Backnanger Schleuderbrettgruppe. Die gibt es nach wie vor, ihren Zenit hatte sie aber in den 50ern und 60ern mit vielen TV-Auftritten und deutschen Meistertiteln erreicht. Und sie sieht sich in der Tradition von Gruppen wie jenen, die 1929 im Bahnhofhotel für Begeisterungsstürme sorgten – unter anderem die Buarts aus Backnang um Karl und Wilhelm Traub, die bei ihrem Kraftsportverein 1928 den Wunsch hinterlegt hatten, alle vergleichbaren deutschen Klubs zu einem Artistenwettstreit einzuladen. Beim Vorsitzenden Heinrich Hegele stießen sie damit auf offene Ohren, die Resonanz auf die auch von Stadtschultheiß Dr. Albert Rienhardt unterzeichnete Einladung übertraf die Erwartungen noch.

An zwei Tagen im April 1929 konnten sich die Zuschauer im Festsaal des Bahnhofhotels davon überzeugen, dass die Akrobatik eine Bereicherung für die gesamte Schwerathletik darstellt. Selbiges galt für die Oberen vom Deutschen Athletiksportverband (DASV), die nach einem zweiten Wettstreit 1930 die Amateurakrobatik als neue Sportart anerkannten. Sie verpassten ihr den für Otto Giers Geschmack „etwas hochtrabenden Namen Kunstkraftsport“, der bis 1974 galt und danach wegen der Internationalisierung der Sportart vom Begriff Sportakrobatik abgelöst wurde. „Dass die deutschen Amateurakrobaten als eigenständige Organisation unter das Dach des DASV schlüpfen durften, das verdanken sie ganz alleine dem Kraftsportverein Backnang“, behauptet Gier.

Wahre Lobeshymnen vom Berichterstatter des Murrtal-Boten

Und natürlich den Athleten, die im heutigen Bürgerhaus ihr Können demonstriert hatten. In rascher Folge seien die verschiedenen Nummern abgewickelt worden, berichtete der Murrtal-Bote, und dies, „obwohl die Anbringung der Geräte stets mit viel Arbeit verwickelt war und dabei Bedacht genommen werden musste, daß die an den Geräten Uebenden mit Lebensgefahr arbeiteten. Exaktheit war Grundbedingung. Daß dies auch durchgeführt wurde, bewies die Veranstaltung, welche ohne jeden Zwischenfall zu Ende gebracht wurde.“ Das Programm habe alle Erwartungen übertroffen, hieß es, und es wurden wahre Lobeshymnen gesungen. Beispiele? Bitte. „Was Furtwängler geleistet hat, wird nicht nachgeahmt werden“, die Leistungen der Gebrüder Kern „können überhaupt nicht kritisiert werden, da derartiges noch nicht gesehen wurde und fast an das Unglaubliche grenzt“. Die Muskelspiele von Hans Mühlig-Carolus „zeigten uns, wie der Körper beherrscht werden kann“. Und auch die Leistung der Buarts wurde honoriert, obwohl die Lokalmatadoren den Backnangern nicht mehr fremd gewesen seien: „Wir können nur sagen, daß diese Gruppe am Sonntag ihr Möglichstes geboten hat.“

Wer nun denkt, aus den Zeilen spreche der Überschwang eines Lokalpatrioten, der irrt. Ähnliche Bewertungen gab es im Fachorgan Athletik. „Der Verein hat einen vollen Sieg errungen“, so dessen Reporter: „Ich konnte schon viele Veranstaltungen beobachten, aber so eine Harmonie unter Teilnehmern, Publikum und Mitgliedern des Vereins ist noch nicht gesehen worden. Backnang hat viel versprochen, aber noch mehr gegeben.“ Aus der Region, aber auch aus Regensburg, Karlsruhe oder Nürnberg waren die Protagonisten angereist und offenbar privat untergebracht worden, denn im Murrtal-Boten war zu lesen: „An dieser Stelle sei auch allen gedankt, welche in hochherziger Weise die auswärtigen Teilnehmer in Freiquartier beherbergt haben.“

In dieser Serie geht’s um Sportereignisse, die im Murrtal und über die Region hinaus von Bedeutung waren. Zu denen die Zuschauer strömten, oder die längere Zeit ein fester Bestandteil der Sportszene waren.

Die Resonanz auf die Einladung war sehr erfreulich, die Show in Backnang wurde ein voller Erfolg.

Die Resonanz auf die Einladung war sehr erfreulich, die Show in Backnang wurde ein voller Erfolg.

Der Schauplatz des Artistenwettstreits: Das Bahnhofhotel und heutige Bürgerhaus (rechts auf der Postkarte von 1931). Es traten Gruppen auf, in deren Tradition sich die legendären Rondos sahen. Foto: Archiv

Der Schauplatz des Artistenwettstreits: Das Bahnhofhotel und heutige Bürgerhaus (rechts auf der Postkarte von 1931). Es traten Gruppen auf, in deren Tradition sich die legendären Rondos sahen. Foto: Archiv

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Erstellt:
24. April 2019, 15:36 Uhr

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