Leben im Auge des Orkans

Bleiben oder Gehen - wie verhalten sich Anwohner am Straßenfest?

Leben im Auge des Orkans

© Pressefotografie Alexander Beche

Von Renate Schweizer

BACKNANG. Vorne raus die Marktplatzbühne - wenn sie wollten, könnten sie dem Oberbürgermeister Frank Nopper Kirschkerne ins Freibier spucken -, hinten raus die Kreissparkassenbühne, seitlich die Engstelle zwischen Weinstube Kunberger und dem Fitnessstudio, wo sich während der fünften Backnanger Jahreszeit regelmäßig Geschrei-Strudel bilden, weil der Fußgängerfluss von drei Seiten wegen Überfüllung ins Stocken gerät: Das Straßenfest ist für die Anwohner der Backnanger Innenstadt Fluch und Segen zugleich. „Im Hausflur treffen die Schallwellen aufeinander und türmen sich auf zu einer wilden Kakophonie - drei Tage und Nächte lang hört man die Türklingel nicht und nicht das Telefon, rudimentäre Verständigung ist möglich durch Brüllen auf kurze Distanz“. Unsere Mitarbeiterin Renate Schweizer weiß wovon sie spricht, denn sie lebt mitten im Straßenfest. „Unsere Freunde wissen: Während des Straßenfests sind wir offline in jeder denkbaren Hinsicht. Sie finden das schade, weil sie gern eben mal raufgekommen wären, um unsere Toilette zu benutzen.“ Mit einem Augenzwinkern berichtet sie über ihre Erfahrungen während der Festtage: „Wer ein bisschen relative Ruhe braucht, entscheidet sich für Blasmusik oder Rockmusik - nach Frittierfett riecht’s überall. Im ersten Jahr, als wir noch nicht so richtig wussten, was auf uns zukam, hatte eine meiner Mitbewohnerinnen versehentlich Spätdienst mit Nachtbereitschaft eingeplant - ein fataler Fehler, wie sich alsbald herausstellte: Der Pieper unhörbar, auf der Türschwelle eine fröhliche Menschentraube, das Dienstfahrzeug in anderthalb Kilometer Entfernung zugeparkt, der nächtliche Weg dahin ein Hindernislauf. So etwas passiert einem kein zweites Mal. Es gibt in der Straßenfestfrage keine Neutralität, das wissen wir jetzt, man kann nicht so tun, als wär man die Schweiz. Es gibt nur zwei Optionen: Freinehmen und mitfeiern - oder freinehmen und abhauen.“

Renate Schweizer freut sich auf das Straßenfest. Ihre Mitbewohnerin hat allerdings schon die Flucht angetreten. Für unsere Zeitung begibt Schweizer sich bei ihren Nachbarn in der Innenstadt auf eine Forschungsexpedition mit der Frage: Bleiben oder Gehen - wie verhalten sie sich zum Straßenfest?

Leben im Auge des Orkans - Anwohner am Straßenfest

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Andreas Spinner, Marktstraße: In diesem Jahr wird es sein 30. Straßenfest sein. ...
Andreas Spinner, Marktstraße:
In diesem Jahr wird es sein 30. Straßenfest sein. Seit er nach den Lehr-, Wander- und Studienjahren das elterliche Bekleidungsgeschäft übernommen hat, lebt Andreas Spinner in der Marktstraße auf und mit dem Straßenfest – das Jubiläum fällt ihm erst auf, als ich ihn danach frage. In 30 Jahren kommt einiges zusammen an Straßenfestgeschichten, denn in diesen Tagen kommen sie alle und füllen das Haus bis zum Dach: Ein Trupp Franzosen aus Annonay, die den Weinstand am Obstmarkt betreiben, die Freunde seit ewigen Zeiten, die alle Jahre wieder mal ein Wochenende in Backnang verbringen, die Kinder natürlich, seit sie aus dem Haus sind, und die Freunde der Kinder. Vergnügt grinst der Herrenausstatter hinter seiner Theke wenn er daran denkt. Oh nein, das eine oder andere ist nicht zeitungstauglich – aber doch, die Sonntagmittage, die muss er einfach erzählen: „Am Sonntagmittag gibt es für alle im Haus ein Essen, meine Frau Andrea kann bestens kochen und dann tafeln wir deutsch-französisch, ein Dutzend Leute und mehr, und erzählen und lachen und schmausen bevor der Trubel in die nächste Runde geht.“ Das genießt er, man sieht’s ihm an. „1000 Gespräche – das ist überhaupt das Beste am Straßenfest. Und dann natürlich der Dienstag, wenn alles vorbei ist. Die Feuerwehr flutet die Innenstadt und beseitigt die Spuren. Das Haus steht immer noch und gehört wieder uns – das ist auch schön.“ Die Ladentür bimmelt, Kundschaft kommt. Übers Straßenfest bleibt der Laden geschlossen, Kundschaft, Gäste und Inhaber müssen feiern.

© Pressefotografie Alexander Becher

Rosa Palmisano, Marktstraße: „Oh nein!“ Heftig schüttelt die temperamentvolle Fr...
Rosa Palmisano, Marktstraße:
„Oh nein!“ Heftig schüttelt die temperamentvolle Frau mit den italienischen Wurzeln den Kopf: „Straßenfest ist nichts für mich!“ In ihrem ersten Straßenfestjahr vor neun Jahren hat die Friseurmeisterin in einem Friseurladen am Gänsebrunnen selbständig gearbeitet. „Ich wusste ja nicht, was auf mich zukommt: Man macht kein Auge zu und steht dann am Samstagmorgen total kaputt im Laden. Das macht keinen Spaß.“ Im zweiten Jahr blieb das Geschäft zu und sie hat mitgefeiert. Aber schlafen ging da ja auch nicht. „Bis früh um 3.00 Uhr der Feierlärm und dann ab 5.00 Uhr die Stadtreinigung – da bist du 3 Tage lang neben der Spur.“ Und so fasste sie einen Entschluss: Flug buchen, raus aus Backnang, egal wohin. So macht sie es seitdem. „Ich arbeite inzwischen wieder im Angestelltenverhältnis und nehme halt Urlaub. Das ist genau richtig für mich." Wo’s dieses Mal hingeht? „Nach Antalya mit meiner Schwester. Genau wie letztes Jahr. Aber das Klassik-Open-Air in der Woche vorm Straßenfest nehm‘ ich noch mit – das find ich herrlich!“ Vergnügt blinzelt sie ihrem Partner Süleyman Higde zu: „Straßenfest feiern kann er dann ohne mich.“

© Pressefotografie Alexander Becher

Süleyman Higde, Marktstraße: Süleyman Higde freut sich auf’s Straßenfest. Seit 9...
Süleyman Higde, Marktstraße:
Süleyman Higde freut sich auf’s Straßenfest. Seit 9 Jahren lebt er in der Marktstraße in einer Wohnung über der Weinstube Kunberger. Zentraler kann man nicht wohnen. Lauter geht’s auch kaum, aber das macht ihm nichts aus. „Ich kann immer schlafen“ erzählt er, „notfalls sogar in der Disco. Ich bleibe und feiere mit. Ich gehe alle Stände durch, esse super-leckere Hamburger und treffe Leute, die ich schon lange nicht gesehen habe. Ich mag das, wenn alle gut drauf sind und überall Musik.“ Anfang Juni hat der IT-Techniker einen Laden am Obstmarkt in der Innenstadt übernommen, Druti heißt der. „Der Laden bleibt aber zu übers Straßenfest“ erklärt er vergnügt. „Die Tür ist sowieso mehr oder weniger zugebaut – da könnte gar kein Kunde rein und raus.“ Schelmisch grinst der Mann mit den türkischen Wurzeln: „Ich mag das Straßenfest. Wenn Sie was Schlechtes darüber hören wollen – da müssen Sie schon meine Frau fragen. Wo wir uns einig sind ist das Klassik-Open-Air eine Woche vorher“ sagt er. „Fenster auf, ein schönes Glas Rotwein und die Musik genießen – das mögen wir beide.“

© Pressefotografie Alexander Becher

David Weller, Schillerstraße: Für Wellers ist das Straßenfest eine Familienangel...
David Weller, Schillerstraße:
Für Wellers ist das Straßenfest eine Familienangelegenheit. Vier Generationen sind damit zugange. Wohnen mittendrin. Betreiben da einen Stand. Haben am Sonntag das Café offen. Und am Montag das Ladengeschäft. Wobei, zugegeben, die Rolle des Jüngsten, Daniels, wird darin bestehen, sich das ganze Treiben aus großen Augen anzusehen. Er ist vergangene Jahr kurz nach dem Straßenfest geboren („wir hatten ein bisschen Muffensausen ob’s langt, aber er hat sich genügend verspätet…“) und der Plan ist, ihn und seine Mama über die wilden Tage – oder jedenfalls Nächte – aus der Schillerstraße auszuquartieren zu den Großeltern mütterlicherseits. „Das war bei uns auch so“ lacht David, sein Vater, „das Straßenfest stellt ja den ganzen Tagesablauf auf den Kopf“ und dabei sieht er aus, als freue er sich auf den ganzen Trubel. Tatsache. „Oh ja – mir g’fällt’s!“ sagt der junge Konditormeister. „Zum Straßenfest kommen alle. Und mindestens einmal an den Stand. Weiß ja jeder, wo man mich findet.“ Am schönsten von allem ist dann aber doch, wenn es vorbei ist. „Dienstagmorgens so um halb drei, wenn wir mit Aufräumen fertig sind, die Security-Leute die letzte Runde drehen und die Standnachbarn noch letzte Dinge verstauen – dann sitzen wir miteinander auf der Treppe zum Café und trinken noch ein Glas Wein. Das ist unser privater Zapfenstreich. Wir haben’s geschafft und es war wieder mal toll.“ Spricht’s und verschwindet wieder in seiner Backstube. Die Torten warten.

© Jörg Fiedler

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Erstellt:
22. Juni 2019, 16:00 Uhr

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