Lebensretterin: „Es war eiskalt, ich habe versucht, ruhig zu atmen“

Es ist einer der mysteriösesten Fälle des Jahres: Eine 14-Jährige treibt in Stuttgart im Neckar. Wie sie dorthin gekommen ist, weiß niemand. Eine junge Frau rettet das Mädchen – und erzählt jetzt von jenem Tag.

Am Berger Steg hat eine junge Frau ein 14-jähriges Mädchen aus dem kalten Neckar gerettet.Am Berger Steg hat eine junge Frau ein 14-jähriges Mädchen aus dem kalten Neckar gerettet.

© Fotoagentur Stuttg/Andreas Rosar

Am Berger Steg hat eine junge Frau ein 14-jähriges Mädchen aus dem kalten Neckar gerettet.Am Berger Steg hat eine junge Frau ein 14-jähriges Mädchen aus dem kalten Neckar gerettet.

Von Jürgen Bock

Stuttgart - Ist es Zufall, ist es Fügung? Niemand weiß es. Jedenfalls ahnt die junge Stuttgarterin nichts, als sie am 11. November zur Arbeit aufbricht. Ihre Route führt sie mit dem Fahrrad über den Radweg am Neckarufer entlang. Kurz darauf wird sie zur Lebensretterin. „Sie hat von Anfang bis Ende alles richtig gemacht“, wird die Polizei sie später loben. In einem Fall, der nach wie vor sehr mysteriös erscheint.

Jetzt erzählt die 26-Jährige gegenüber unserer Zeitung, was an jenem Tag passiert ist. Ihr Name oder Beruf soll dabei nicht genannt werden, es zieht sie nicht in die Öffentlichkeit. Fest steht aber: Es ist außergewöhnlich mutig, was die junge Frau getan hat. Höchstwahrscheinlich verdankt eine 14-Jährige der Frau ihr Leben.

Gegen 10 Uhr fährt die 26-Jährige durch Bad Cannstatt. Ausnahmsweise ist sie auf der Wasen-Seite unterwegs, weil am anderen Neckarufer der Weg gesperrt ist. Aus dem Augenwinkel sieht sie etwas im Neckar treiben. „Ich habe mir erst einmal nichts dabei gedacht und bin weitergefahren“, erinnert sie sich. Doch dann überkommt sie ein merkwürdiges Gefühl. Sie hält an, stellt das Rad ab, geht zu Fuß zurück. Und sieht, dass ein Mädchen im Wasser liegt. Es hält sich an einem Rucksack fest.

Es ist nicht zu erkennen, ob die 14-Jährige sich noch bewegt. „Da ist mir das Adrenalin nur so in den Körper geschossen“, sagt die junge Frau. Sie greift zum Handy, wählt den Notruf. Sie gibt durch, wo genau sie sich befindet. Gleichzeitig spricht sie drei andere Passanten an, einen Radfahrer und zwei Spaziergänger. Der Radler bietet an, sich an die Straße zu stellen und die Rettungskräfte an die richtige Stelle zu lotsen.

„Der Polizist am Telefon hat gesagt, ich solle lieber nichts unternehmen, wenn ich mich dabei selbst in Gefahr begebe“, erinnert sich die 26-Jährige. Zu diesem Zeitpunkt sei sie auch noch nicht dazu entschlossen gewesen, ins Wasser zu springen. „Ich glaube, ich hätte es emotional nicht gepackt, jemand Leblosen herauszuziehen.“ Doch dann bewegt sich das Mädchen plötzlich. Auf Ansprache reagiert es kaum, aber auf die Frage, ob es zum Ufer schwimmen könne, schüttelt es schwach den Kopf.

Die 26-Jährige handelt. Einer der Passanten geht mit ihr die steile Böschung hinunter, wartet dort und übernimmt das Telefon. Sie selbst zieht ihre Schuhe und die dicke Winterjacke aus, um nicht in die Tiefe gezogen zu werden, und steigt ins Wasser. Das hat unter zehn Grad. „Es war eiskalt. Ich habe nur versucht, bei ruhigem Atem zu bleiben.“ Wahrscheinlich hilft ihr, dass sie kurz zuvor in der Sauna und danach beim Eisbaden war – sie weiß, was auf sie zukommt. Zudem hat sie erst zwei Wochen vorher über den Arbeitgeber einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert.

Sie schwimmt zu der Jugendlichen, schiebt sie in Richtung Ufer. Der zweite Helfer nimmt sie dort entgegen. Gemeinsam schaffen sie es, das Mädchen aus dem Wasser zu bekommen. „Die Strömung war zum Glück nicht so stark“, erinnert sich die Frau. Wenige Minuten später treffen die Rettungskräfte ein. Die 26-Jährige wärmt sich im Polizeiauto auf. Die Gerettete kann ihr nicht einmal ihren Namen nennen. „Ich weiß nicht, wie lange sie schon im Wasser gewesen ist, sie war extrem kalt und schien unter Schock zu stehen.“

Fühlt sie sich nun als Heldin, taugt sie als Vorbild? Die junge Frau beantwortet diese Frage sehr reflektiert. „Das ist vielleicht nichts, was jeder machen sollte. Man muss auf die eigenen Fähigkeiten schauen, gut überlegen, was einem möglich ist.“ Man müsse auf jeden Fall den Schutz des eigenen Lebens bedenken. Immer könne man aber einen Notruf absetzen. Ihr selbst habe der Polizist am Telefon sehr geholfen: „Er war kompetent, hat mich auch nach meinem Befinden gefragt. Das war erleichternd. Ich hatte das Gefühl, nicht allein zu sein.“

Was an jenem 11. November vor der Rettungstat passiert ist, stellt für die Ermittler nach wie vor ein Rätsel dar. Fest steht, dass die 14-Jährige, die im Landkreis Ludwigsburg wohnt, an diesem Vormittag hätte in der Schule sein sollen und nicht in Stuttgart. „Sie kann sich nach wie vor nicht daran erinnern, wie sie ins Wasser gekommen ist“, sagt eine Sprecherin der Ludwigsburger Polizei. Die Ermittlungen hätten bisher „keine Hinweise auf eine Straftat erbracht“. Es haben sich auch keine Zeugen mehr gemeldet, denen die Jugendliche auf dem Weg in die Landeshauptstadt oder am Neckar aufgefallen ist. „Es ist ein sehr außergewöhnlicher Fall“, so die Sprecherin.

Größere Verletzungen scheint die 14-Jährige nicht davongetragen zu haben. Außer einer kleinen Kopfverletzung und einer Unterkühlung mussten die Rettungskräfte nichts versorgen. Das Mädchen ist nur kurz zur Untersuchung und Beobachtung im Krankenhaus gewesen und konnte dann wieder nach Hause gehen.

Konsequenzen könnte der mysteriöse Vorfall noch für die Retterin haben – jedoch in positiver Hinsicht. Sie soll noch mal von der Wasserschutzpolizei vernommen werden. Wahrscheinlich meldet die dann ganz offiziell einen Lebensrettungsvorgang an die Stadt Stuttgart. Das könnte bedeuten, dass die junge Frau eine Auszeichnung für ihren beherzten Einsatz bekommt. Die nimmt aber auch so schon Positives mit: „Das System als Ganzes hat an diesem Tag funktioniert. Das war eine schöne Erfahrung.“

Von der 14-Jährigen hat sie nichts mehr gehört. „Aber ich weiß, dass sich jetzt Leute, die sich damit auskennen, darum kümmern.“ Auch mit etwas Abstand habe sie gemischte Gefühle: „Egal wie die Umstände waren: Das Mädchen hätte nicht dort sein sollen“, sagt sie. Und: „Ich war glücklicherweise zur richtigen Zeit am richtigen Ort.“

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Erstellt:
27. Dezember 2024, 22:08 Uhr
Aktualisiert:
28. Dezember 2024, 21:55 Uhr

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