Senioren in Japan
Lieber hinter Gittern als einsam und allein
Japans alternde Gesellschaft ist eine sichere – Senioren begehen kaum Straftaten. Trotzdem nimmt in Gefängnissen seit längerem der Anteil älterer Insassen zu.
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© AFP/Richard A, Brooks
Hier enden alle Wege: ein Angestellter im Flur des Fuchu Gefängnis in Tokio
Von Felix Lill
Für die meisten Leute ist dieser Satz eine Horrorvorstellung: „Ich verurteile Sie zu einer Haftstrafe.“ : Wem so ein Satz gesagt wird, hat sein Leben in Freiheit verloren, müsste für Gänge an die frische Luft fortan Erlaubnis bitten, könnte seine Hobbys nicht mehr betreiben, auch kein Essen zum Kochen einkaufen oder Freunde treffen. Neben dem Ausschluss vom gesellschaftlichen Leben wäre eine Zeit hinter Gittern zudem der wohl größte Makel in jeder Biografie.
Auf den ersten Blick gilt das auch in Japan, und zwar zusehends deutlich: Über die vergangenen 20 Jahre hat Zahl der Gefängnisinsassen um mehr als die Hälfte nachgelassen. Doch inmitten niedriger Geburtenraten und einer steigenden Lebenserwartung rapide alternden Land ist eine Bevölkerungsgruppe umso stärker in Gefängnissen vertreten: alte Menschen. 2022, dem Jahr der jüngsten Statistiken, waren 14 Prozent der Insassen 65 oder älter. Dieser Anteil ist damit doppelt so hoch wie noch zwei Jahrzehnte zuvor.
Alte verhalten sich seltener kriminell als jüngere
In dem ostasiatischen Land ist das eine paradoxe Entwicklung. Denn während die Bevölkerung altert – heute ist jede dritte Person mindestens 65 und mehr als jede zehnte mindestens 80 Jahre alt –, hat die Zahl von Straftaten tendenziell deutlich abgenommen. Alternde Gesellschaften, dieser Trend gilt international, sind sichere Gesellschaften. Denn alte Menschen verhalten sich meist seltener kriminell als jüngere.
In Japan aber steigt der Anteil älterer Gefängnisinsassen seit einiger Zeit sogar schneller als der Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung. Weltweit entwickelt Japan mittlerweile einen Ruf für seine alten Insassen. „Japan steht vor wachsender Altersbevölkerung in Gefängnissen“, schrieb die internationale Nachrichtenagentur Associated Press schon 2010. Und im Jahr 2017 beobachtete die „Japan Times“: „Medien beginnen, sich auf die alternde Bevölkerung in Gefängnissen zu konzentrieren.“
Einsamkeit lässt Haftanstalten attraktiv erscheinen
Japans öffentlicher Rundfunksender NHK verkündete 2019: „Gefängnisse sind in Japan oft der rettende Hafen für Seniorinnen.“ Ähnlich berichtete im Januar dieses Jahres nun der US- Sender CNN, der kurz zuvor ein Gefängnis hatte besuchen dürfen: „Japans ältere Menschen sind einsam und haben es schwer.“ Ein zusehends gängiger Ausweg? Der Gang ins Gefängnis. Ein genauer Blick auf die Statistiken zeigt: Der mit mit 58 Prozent häufigste Grund für eine Haftstrafe unter älteren Straftätern, ist Diebstahl – bei Frauen sind es 80 Prozent. CNN behauptet, dass Insassen die Taten nicht selten mit Absicht begangen hätten. Mehr noch: „Es gibt sogar Menschen, die sagen, sie würden 20 000 oder 30 000 Yen (120 bis 190 Euro) im Monat bezahlen, um für immer hier zu wohnen“, wird dort ein Gefängnisangestellter namens Takayoshi Shiranaga zitiert.
Warum nur? Nicht alle Betagten in Japan führen ein Leben voller Gesundheit und Selbstverwirklichung. Rund 20 Prozent der Alten in Japan leben in relativer Armut, haben weniger als 50 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung. Hinzu kommt in vielen Fällen die Einsamkeit. Ältere Frauen sind verwitwet oder haben ihre Kinder – von denen es durchschnittlich weniger gibt als in der vorigen Generation – häufig an die großen Städte verloren, wo diese zum Arbeiten hingezogen sind. 2022 ergab eine Regierungsumfrage, dass sich gut 40 Prozent aller Personen im Land, die mindestens 16 Jahre alt fühlen, im vorausgegangenen Jahr einsam gefühlt hatten. Schon 2021 wurde ein Ministerium für Einsamkeit eingeführt.
Justizangestellte kümmern sich um die Senioren
Für Seniorinnen und Senioren, die sich arm und einsam fühlen, ist das Gefängnis dann nicht selten eher Erlösung als Strafe. Dort gibt es kostenlose Gesundheitsversorgung, regelmäßiges Essen und sozialen Umgang, der oft gar etwas Fürsorgliches hat. Justizangestellte berichten, dass sie inkontinenten Senioren auch die Windeln wechseln und sich generell um sie kümmern.
Inwieweit die Gefängnisse all die absichtlichen Straftäter wieder loswerden können, wird nun im Land diskutiert. Die Regierung arbeitet an einem Plan, wie eine erfolgreiche Wiedereingliederung in die Freiheit aussehen könnte. Eine Idee ist eine höhere Verfügbarkeit von Sozialwohnungen für arme Senioren. So eine Maßnahme könnte auch bei einer anderen Herausforderung helfen, die in Japan längst unter dem Schlagwort „kodokushi“ bekannt ist – und sich mit „Tod in Einsamkeit“ übersetzt.
Aber etwas Hoffnung gibt es: Erfahrungen des Arbeits- und Gesundheitsministeriums zeigen, dass diejenigen Gefängnisinsassen, die vor ihrer Freilassung auf das Leben danach durch psychologisch geschulte Fachkräfte vorbereitet wurden, auch seltener rückfällig werden. Gepaart mit der Verfügbarkeit von Sozialwohnungen, in denen man dann auch weniger einsam wäre, könnten die ärmeren und alleinstehenden Betagten Japans wieder dem üblichen Trend entsprechen: dass die Anfälligkeit für Straftaten im Alter abnimmt.
Kodokushi – Tod in Einsamkeit
Risiko Die Anzahl alter Alleinstehender in Japan wächst und damit die Gefahr von „Tod in Einsamkeit“, kodokushi auf Japanisch. Laut Vorhersagen könnten 2050 um die 20 Prozent der älteren Menschen in Japan alleine leben – die dann ein umso höheres kodokushi-Risiko haben.
Leichname Von den rund 100 000 Leichnamen, die Japans Polizei im ersten Halbjahr 2024 untersuchte, lagen knapp 40 Prozent zuvor zumindest einen Monat lang in der Wohnung. 70 Prozent davon waren mindestens 65 Jahre alt gewesen.