Karenztage
Machen deutsche Arbeitnehmer zu viel „blau“?
Die Debatte um die Wiedereinführung von Karenztagen im Krankheitsfall ist intensiv, aber politisch chancenlos. Zudem ist die Faktenlage undurchsichtig.
Von Norbert Wallet
Allianz-Chef Oliver Bäte hat eine Diskussion darüber angestoßen, ob in Deutschland der in den 70er-Jahren abgeschaffte Karenztag bei Krankmeldungen wieder eingeführt werden soll. Kranke Arbeitnehmer würden also am ersten Tag ihres Ausfalls keine Lohnfortzahlung mehr erhalten.
Bäte begründet seinen Vorstoß damit, dass Deutschland mittlerweile „Weltmeister bei der Krankmeldung“ sei. Bäte errechnet eine Kostenersparnis für Arbeitgeber und Krankenkassen von rund 40 Milliarden Euro, wenn der Lohn am ersten Krankheitstag nicht erstattet würde. „Arbeitgeber zahlen in Deutschland pro Jahr 77 Milliarden Euro Gehälter für kranke Mitarbeiter. Von den Krankenkassen kommen noch einmal 19 Milliarden Euro hinzu. Das entspricht rund 6 Prozent der gesamten Sozialausgaben“, hatte der Allianz-Chef dem „Handelsblatt“ gesagt.
Ärzte-Präsident für Teilzeit-Krankschreibungen
Der Vorstoß setzt auf eine bereits laufende Diskussion auf. So hatte sich Ärztepräsident Klaus Reinhardt zuletzt für Teilzeit-Krankschreibungen ausgesprochen. Auch Monika Schnitzer, die Chefin der Wirtschaftsweisen, konnte der Idee etwas abgewinnen.
Die Stoßrichtung der Debatte fand ihren Widerhall in Bemerkungen des CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann, der schon im Dezember beklagt hatte, dass es in Deutschland „gar keine Leistungsbereitschaft mehr“ gebe. Es ist also nicht erstaunlich, dass die Bemerkungen des Allianz-Chefs in der Union auch wieder auf Unterstützung trafen. Sepp Müller (CSU), der Unionsfraktionsvize im Deutschen Bundestag, sagte, unsere Sozialsysteme würden „immer weiter beansprucht, aus diesem Grund sollten wir uns meiner Meinung nach nicht vor neuen Ideen verschließen und diese diskutieren“. Der Karenztag könne „ein altbewährter Ansatz sein“.
Auch Widerspruch aus der Union
Allerdings kam aus der Union auch Widerspruch. Tino Sorgen, der gesundheitspolitische Sprecher der Fraktion, zeigte sich ausgesprochen skeptisch. „Nur die allerwenigsten Menschen melden sich aus Spaß krank“, sagte der Gesundheitsexperte. Ohnehin hat die Idee Bätes kaum Chancen auf eine politische Umsetzung. Die Union, als die Partei, die womöglich nach den Bundestagswahlen den Kanzler stellen könnte, hat keinen Partner, der die Wiedereinführung des Karenztages mittragen würde. Auch das hat die bisherige Diskussion gezeigt. Der Vorschlag zur Einschränkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zeige, „wie weit manche Personen von der Realität der arbeitenden Bevölkerung entfernt sind“, sagte die SPD-Fraktionsvize Dagmar Schmidt.
Es ist nicht so einfach, die Faktenlage zu ermitteln. Allianz-Chef Bäte spricht von durchschnittlich 20 Krankheitstagen pro Arbeitnehmer im Jahr. Wie er auf diese Zahl kommt, ist indes nicht klar. Die Zahl der Krankheitstage in Deutschland wird vom Statistischen Bundesamt erfasst. Dabei greift es aber auf die Bescheinigungen der Arbeitsunfähigkeit zurück, die für mehrere Tage ausgestellt wurden. Hier lag der Wert im Jahr 2023 bei 15,1 Krankheitstagen. Für Krankmeldungen ohne ärztliches Attest gibt es keine deutschlandweite Statistik.
Rekordhoch durch technischen Effekt
Die Zahlen des Bundesamtes weisen tatsächlich für die Jahre 2022 und 2023 einen erheblichen Sprung nach oben aus. Dem scheint aber kein realer Anstieg der Ausfälle zugrunde zu liegen, sondern eine technische Änderung bei der Erfassung. Seit 2022 werden Krankmeldungen in Deutschland nämlich von den Arbeitgebern automatisch an die Krankenkassen weitergeleitet. Vorher erfolgten die Mitteilungen freiwillig. OECD-Arbeitsmarktexperte Christopher Prinz spricht von einem „rein statistischen Effekt“. Die OECD sieht auch keine Basis für die Behauptung, Deutschland sei der Weltmeister im Krankfeiern. Dort heißt es, in Frankreich etwa sei der Krankenstand höher, in Belgien und Schweden auf dem gleichen Niveau, in Österreich und den Niederlanden niedriger.