Nach Unwettern in Spanien

„Man hat uns im Stich gelassen“

Drei Tage nach den Unwettern rund um Valencia herrscht in vielen Orten noch das Chaos. Der Katastrophenschutz ist überfordert. Dafür kommen Tausende Freiwillige mit Wasserkanisterin und Schaufeln, um Betroffenen zu helfen.

Menschen bahnen sich ihren Weg durch die Trümmer, die noch lange nicht beseitigt sind.

© dpa/Rober Solsona

Menschen bahnen sich ihren Weg durch die Trümmer, die noch lange nicht beseitigt sind.

Von Martin Dahms

Rechts von der braun dahinströmenden Brühe des Turia ist die Apokalypse, links vom Turia ist Alltag. Eine 200 Meter lange Fußgängerbrücke führt in Valencia über den Fluss Turia. Ununterbrochen laufen Menschen über diese Brücke, von der Apokalypse in den Alltag, aus dem Alltag in die Apokalypse. „Die Brücke der Solidarität“, hat das spanische Fernsehen den Fußgängersteg getauft.

Niemand in Spanien ist unberührt von den Bildern aus Paiporta, Alfafar oder La Torre, den überfluteten und zerstörten Orten rechts vom Turia, Bildern wie aus Katastrophenfilmen oder aus Geschichtsbüchern, die nicht zusammenpassen wollen mit dem guten Leben im reichen Europa des 21. Jahrhunderts. Niemand empfindet diese Irritation stärker als die Menschen links vom Turia. Und sie helfen.

Wasser, warmes Essen und eine Steckdose sind das Wichtigste

Seit drei Tagen kommen Leute von der apokalyptischen Seite herüber, müde und schlammverschmiert, und bitten darum, ihre Mobiltelefone aufladen zu können. Das ist das erste. Sie brauchen noch viel mehr, eine Toilette, eine Dusche, einen Ort zum Ausruhen, Wasser, ein warmes Essen. Aber das Telefon ist das wichtigste: „Ich lebe noch!“, wollen sie mitteilen. Und dann ängstlich fragen: Wie geht es denen, die ich seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen habe? Leben sie noch? Gewissheit ist wichtiger als ein warmes Essen. Wenn sie die 200 Meter lange Fußgängerbrücke ins friedliche Valencia überquert haben, sehen sie gleich rechts die Lichter der „Bar Prieto“. Die hat seit Dienstag ununterbrochen geöffnet. „Wir haben alle Geräte ausgestöpselt, damit sie ihre Telefone aufladen können“, erzählt Juan, der Geschäftsführer der Bar, den Reporterinnen des staatlichen spanischen Rundfunks RTVE. Der meistgehörte Satz in dieser Bar ist: „Nur keine Sorge, das wirst du mir später bezahlen.“

Die einen helfen denen, die herüberkommen, die anderen machen sich auf den Weg auf die andere Seite, um mit anzupacken. Erst waren es Dutzende, dann Hunderte, jetzt Tausende. Sie kommen mit Schaufeln und mit Wasserkanistern. Sie werden gebraucht. Überall fehlen Hände. Ein Hilferuf im Netz: „Der Müll türmt sich in den Straßen, der muss weg, und Laster kommen hier nicht rein. Dazu kommt, dass wir seit drei Tagen kein Wasser für grundlegende Hygiene haben.“ Der Katastrophenschutz schreibt: „Mit tiefem Dank denen, die der betroffenen Bevölkerung helfen, bitten wir, nicht mit Fahrzeugen zu kommen, damit die Zufahrtsstraßen nicht kollabieren und die Notdienste kommen können.“

Die Polizei muss die Leichen bergen, bevor sie helfen kann

Die kommen aber nicht, jedenfalls nicht so viel und so oft, wie sie gebraucht werden. „Der Staat hat uns verlassen“, sagt der 65-jährige Manuel den Reportern der Zeitung El Español in Paiporta, der 25 000-Einwohner-Vorstadt von Valencia, die am Dienstag von einer Flutwelle überrollt wurde. Jeder Bewohner, mit dem einer der Reporter spricht, bestätigt diese Klage: „Man hat uns im Stich gelassen.“

Jemand hält eine Polizeistreife an: Ein Nachbar komme nicht aus seinem Haus heraus. „Tut mir leid“, sagt der Beamte, „unsere Priorität sind zurzeit die Leichen“, und fährt weiter. „Wir können nicht mehr“, sagt der Nachbar. Eine andere Anwohnerin macht sich auf den Weg hinüber zu Fuß nach Valencia, ihr Sohn ist Epileptiker, nirgendwo im Ort gibt es Medizin für ihn. „Wir haben alles verloren“, sagt sie, „ich kann ihn nicht auch noch verlieren.“

Es fehlt an guter Organisation

Am Freitagmittag berichtet die Regionalregierung von Valencia, dass sie bisher 205 Tote gezählt habe. Das sind mehr Tote als beim islamistischen Terroranschlag auf vier Madrider Vorortzüge im März 2004. Die spanische Verteidigungsministerin schickt zusätzliche Soldaten ins Katastrophengebiet, „so viele, wie gebraucht werden“, verspricht sie. An gutem Willen fehlt es nirgendwo. Es fehlt, so macht es bisher den Eindruck, an guter Organisation.

Die Herausforderungen sind gewaltig. Dutzende Dörfer – niemand hat sie bisher gezählt – sind komplette Trümmerfelder, oder sie sind mindestens teilweise von den Fluten überrollt worden. Die Bürgermeisterin von Chiva, wo es am Dienstag in wenigen Stunden so viel regnete wie sonst in einem Jahr, sagte am Freitagmorgen in mehreren Interviews, dass Lebensmittel und Wasser fehlten „und ein Notarztwagen“. Bisher wisse man im Ort von zehn Toten, aber sie rechne „mit Hunderten“.

Dutzende Menschen werden noch vermisst

Immer noch sind nicht alle Autos von den Straßen oder aus den Gräben, oder wohin auch immer die Flut sie gerissen hat, geschleppt worden. Es ist eine langsame, vorsichtige Arbeit, denn immer wieder finden die Rettungskräfte Leichen in den Autos. Deswegen macht der spanische Verkehrsminister auch keine Versprechungen, wann die Autobahn A 3 von Valencia nach Madrid wieder regulär befahrbar sein wird, eine der Hauptadern des spanischen Straßennetzes. Erst müssen die verlassenen Autos und die Toten geborgen werden. Dutzende Menschen werden noch vermisst.

Das Unwetter ist noch nicht vorbei. Es hat sich in andere Ecken des Landes verzogen. Für Teile der andalusischen Provinz Huelva, ganz im Südwesten Spaniens, war am Freitag Alarmstufe Rot ausgerufen.

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Erstellt:
1. November 2024, 15:08 Uhr

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