Nach Tragödie in Novi Sad
Massive Studentenproteste in Serbien – Angst vor Eskalation
Belgrad, Nis, Novi Sad: Seit Wochen gehen Studenten in Serbien auf die Straße, um politische Verantwortung einzufordern. Ausgelöst wurde die Krise von einem tödlichen Unglück.
Von red/kna
Mit Megafonen und Trillerpfeifen haben sich Hunderte Studenten auf der Straße versammelt. Und doch: kein Ton. Über dem Meer aus neongelben Warnwesten liegt gespenstische Stille. Erst als 15 Minuten vorüber sind, bricht es aus der Menge heraus, begleitet von Pfiffen und in die Luft gestreckten Fäusten: „Streik!“ Das Land soll lahmgelegt werden, bis die Regierung ihnen zuhört.
Die obligatorische Schweige-Viertelstunde ist zum täglichen Anblick geworden. Damit wollen die Studenten an jene 15 Menschen erinnern, die beim Einsturz eines Vordachs am Bahnhof von Serbiens zweitgrößter Stadt Novi Sad ums Leben kamen. Seit Wochen gehen Studierende dafür auf die Straße. Das Unglück vom November brachte laut Beobachtern eine „Zeitenwende“ für das EU-Beitrittskandidatenland.
Das Gebäude war erst vor kurzem nach Umbauarbeiten durch ein chinesisches Konsortium neu eröffnet worden. Regierungskritiker vermuten unfachmännische Arbeit und kritisieren die Geheimhaltung um den Deal. Im Dezember gab es im Zuge des Einsturzes die größten Proteste in der Geschichte des Landes. Allein in Belgrad riefen an die 100.000 Serben: „Korruption tötet!“
Die Angst vor einer Eskalation ist groß
Für Freitag hatten die Studierenden zum Generalstreik aufgerufen. Tatsächlich solidarisieren sich immer mehr Berufsgruppen mit ihnen: Bauern, Anwälte, Uni-Professoren und Lehrer. „Anders als unsere Regierung, von der wir uns immer noch ungesehen und ignoriert fühlen“, sagt ein Student der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA); er will namentlich nicht genannt werden.
Unter einem Streikbanner vor der Philosophischen Fakultät richtet er einen Appell an Staatspräsident Aleksandar Vucic: „Bitte arbeiten Sie endlich mit uns zusammen. Wir wollen Gerechtigkeit. Die Staatsanwälte müssen aktiv werden; unsere Gesetze müssen funktionieren.“ Wenige Wochen nach dem Einsturz wurden elf Personen festgenommen, darunter auch Bau- und Infrastrukturminister Goran Vesic. Er war bereits zuvor auf wachsenden Druck zurückgetreten. Inzwischen ist Vesic wieder auf freiem Fuß.
„Der Rücktritt eines Funktionsträgers erfüllt in keiner Weise unsere Forderungen“, so ein Student bei den jüngsten Protesten. Er will, dass die Namen der Verantwortlichen für die Umbauarbeiten in Novi Sad veröffentlicht werden. Ebenso wollen die Studenten die Herausgabe der Dokumente um das Bauprojekt, die die Regierung bislang nur zum Teil veröffentlichte.
In Belgrad herrscht Sorge; denn zusehends begleitet Gewalt die Proteste. Die Angst vor einer Eskalation ist groß. Allein in den vergangenen zwei Wochen wurden Studierende mit Flaschen beworfen, geschlagen und eine Studentin absichtlich von einem Auto angefahren. Unterdessen erklärt der Populist Vucic in den von ihm kontrollierten Boulevardmedien, „ausländische Instrukteure“ seien für die Proteste verantwortlich. Er wittert eine Verschwörung. Den Aufstand werde seine Regierung „nur bis zu einem gewissen Punkt“ tolerieren. Sie steht in der Kritik, zunehmend autoritär durchzugreifen.
Die Studenten geben sich siegessicher
Seit längerem schon gärt die Wut in dem Balkanland. In den vergangenen Jahren gab es wiederholt Massenproteste: gegen Gewalt an Schulen, einen umstrittenen Lithium-Deal mit der EU und manipulierte Wahlen. Wie bisher habe die Vucic-Regierung gehofft, dass auch die Studentenproteste binnen weniger Wochen verblassen. „Aber irgendwie haben die Studenten es geschafft, das Feuer am Brennen zu halten“, sagt Nemanja Todorovic Stiplija, Chefredakteur des Informationsportals European Western Balkans in Belgrad.
Dem Analysten zufolge stammt der Elan der Proteste von dem Generationswechsel in Serbiens postsozialistischer Gesellschaft. So kontrolliere Vucics Serbische Fortschrittspartei (SNS) weite Teile des Alltags - von der Justiz über Medien bis zur Verwaltung in jedem noch so kleinen Dorf. Die Jungen wollten das nicht länger akzeptieren. „Es ist hart für sie zu sehen, wie ihre Eltern um ihre Jobs fürchten müssen und darauf achten, was sie öffentlich sagen können“, so Todorovic Stiplija. Auch in seiner südserbischen Heimatstadt herrsche weitgehend „Furcht vor den lokalen SNS-Führern“.
Vor der Uni Belgrad geben sich die Studenten siegessicher: Keine Androhung von Verweis, keine Abschlussarbeit, kein Druckmittel werde ihren Protest ersticken, meint eine von ihnen. Falls nötig, werde man noch Wochen und Monate demonstrieren. „Wir haben keine Angst mehr!“