LKA-Chef regt Debatte über Abschaffung von Verjährungen an
dpa/lsw Stuttgart. Im Kampf gegen quälende Ungewissheit versuchen Ermittler sogenannte Cold Cases auch noch Jahre nach der Tat aufzuklären. Denn Mord verjährt nicht. Aber warum gilt das eigentlich nur für Mord?
Mord verjährt nie - aber was ist mit anderen schwersten Verbrechen wie Totschlag oder Kindesmissbrauch? Der neue Chef des Landeskriminalamts Baden-Württemberg, Andreas Stenger, hat sich für eine Abschaffung der Verjährungsfrist in bestimmten Fällen ausgesprochen. „Von meinem kriminalistischen Denken her würde ich es befürworten“, sagte Stenger der Deutschen Presse-Agentur in Stuttgart. „Meine Meinung wäre, dass man bei Totschlag und richtig schweren Straftaten mit großem Opferleid über die Verjährungsfristen nachdenken sollte - wenn wir die Aussicht haben, diese Fälle auch nach langer Zeit noch zu klären.“ Auch der Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Ralf Kusterer, fordert ein Ende der Verjährungsfristen schwerster Straftaten.
Mordfälle gelten erst als abgeschlossen, wenn ein Täter gefunden wurde. Einen ungeklärten Fall nennen die Kriminalisten „Cold Case“, einen „kalten Fall“. 416 Tötungsdelikte davon gibt es laut Landeskriminalamt derzeit (Stand: Juni 2021) im Südwesten. Etwa das der ermordeten Bankiersfrau Maria Bögerl aus Heidenheim. Sie war im Mai 2010 aus ihrem Haus entführt worden. Eine Lösegeldübergabe scheiterte. Anfang Juni 2010 wurde die Leiche der 54-Jährigen gefunden. Bögerls Mann nahm sich später das Leben. Nach dem Mörder wird noch immer gesucht.
Immer wieder gelingt es aber, solche Fälle auch Jahre später noch aufzuklären. Zuletzt etwa im Fall des Mordes an einer Frau aus Sindelfingen. Die 35-Jährige war im Sommer 1995 auf dem Nachhauseweg heimtückisch getötet worden. Im Februar 2020 wurde der Mörder in Hamburg festgenommen. Die Fahnder waren bei einer neuerlichen Auswertung der DNA-Spuren auf ihn gestoßen. 2007 war der Mann wegen der Tötung einer anderen Frau verurteilt worden - deshalb tauchte er nun in der Datenbank auf. Knapp 26 Jahre nach der Tat wurde der 71-jährige Mann vergangene Woche in Stuttgart zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.
Solche Durchbrüche führen regelmäßig zu Schlagzeilen und motivieren die Ermittler, immer wieder in alte Akten und Archive abzutauchen und Fälle neu aufzurollen. Aber auch technische Entwicklungen treiben die Ermittlungen an. Spurenspezialisten beispielsweise nehmen alte Asservate erneut unter die Lupe - in der Hoffnung, mit neuer Technik vielleicht doch DNA-Spuren sichern zu können. In den 80er Jahren habe man da eine gewisse Menge an DNA-Material gebraucht, heute würden Hautschüppchen reichen, sagte Stenger.
Das Management der Asservate und die Akten würden zudem digitalisiert - da müsse man nicht mehr so viel Zeit mit dem Suchen von Beweismitteln verbringen. Mit der neuesten Kriminaltechnik würden immer wieder Fälle aufgeklärt, die 25 Jahre oder länger zurücklägen, sagte LKA-Chef Stenger. „Das könnte man sicherlich auch bei schweren Vergewaltigungen und bei Totschlagsdelikten - wenn es dann noch eine Möglichkeit gäbe, diese Verbrechen zu verfolgen.“
„Man muss die Verjährungsdebatte neu eröffnen“, sagte auch der Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Ralf Kusterer. „Es ist doch schizophren, wenn wir heute schwerste Taten aufklären können und dann wegen Verjährungsfristen die Täter freigesprochen werden würden. Es ist Zeit, dass wir solche Fragestellungen stärker aus Opfersicht bewerten.“ Totschlag oder der sexuelle Missbrauch von Kindern dürften nicht einfach so ad acta gelegt werden.
Die neue Justizministerin Marion Gentges (CDU) reagierte hingegen zurückhaltend. Die Debatte müsse vor „vor dem Hintergrund hoher verfassungsrechtlicher Hürden“ besonders sorgfältig geführt werden. „Das Gesamtgefüge der strafrechtlichen Verjährungsfristen ist lange gewachsen und fein austariert.“ Bei vielen Delikten seien die Verjährungsfristen bereits sehr lange, bei bestimmten Delikten gegen Kinder und Jugendliche begännen sie erst zu laufen, wenn das Opfer älter als 30 Jahre sei.
Dagegen begrüßte der Opferverband Weißer Ring den Anstoß. „Die Opfer oder deren Angehörigen erwarten bei Straftaten wie Totschlag oder Vergewaltigung die Bestrafung der Täter, auch wenn diese erst nach vielen Jahren ermittelt werden können“, sagte Hartmut Grasmück vom Landesverband. „Verjährungsfristen sollten dies nicht verhindern.“
Wie in den USA und Großbritannien setzen auch die Behörden in Deutschland zunehmend auf das Modell sogenannter Cold-Case-Units, die systematisch ungelöste Fälle bearbeiten. Im baden-württembergischen Landeskriminalamt wurden im April 2021 drei Stellen geschaffen, die sich um die Fachaufsicht kümmern und dafür Sorge tragen, dass die „Cold Cases“ bei den 13 Kriminalpolizeidirektionen nicht aus dem Blick geraten. Stenger will die Arbeit an den ungelösten Fällen nun systematischer und strukturierter im ganzen Land angehen. Wenn der „Cold Case“ zum „Hot Case“ werde, steige man mit dem gesamten Apparat ein.
Die größten Erfolgsaussichten hätten derzeit Fälle aus den 90er Jahren, sagte er. „Je länger die Fälle zurückliegen, umso schwieriger.“ Manchmal kläre man auch Fälle, bei denen der Täter bereits verstorben sei. Aber das Alter der Fälle sei für die Ermittler kein Auswahlkriterium. Wichtiger sei vielmehr, wo es noch Asservate gebe und neue Spuren zu erwarten seien, sagte Stenger.
Der neue LKA-Chef zeigte sich optimistisch, dass der technische Fortschritt auch in den kommenden Jahren dazu führen werde, Mordfälle aus dem alten Bestand zu lösen. „Forensik, wissenschaftliche Kriminaltechnik und kriminalistische Methoden werden sich natürlich ständig weiterentwickeln, sodass man auch immer dann retrograd (rückwirkend) noch weitere Fälle klären kann.“
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