Mehr Mut beim Thema Rente
Die Politik muss dem Land eine ehrliche Debatte zutrauen – und dicke Bretter bohren.
Von Tobias Peter
Berlin - Wer in einem baufälligen Haus lebt, hat drei Möglichkeiten. Erstens kann er gar nichts tun – in der Hoffnung, ihm werde schon nicht die Decke auf den Kopf fallen. Zweitens kann er ständig mit kleineren Reparaturen nachbessern. Drittens kann er einen Plan entwickeln, wie er das Gebäude dauerhaft in Ordnung bringt.
So ist es auch mit der Politik und dem deutschen Rentensystem, das für den demografischen Wandel schlecht gerüstet ist. Die Menschen werden glücklicherweise älter. Es fehlen Jüngere, um den Generationenvertrag im Gleichgewicht zu halten. Die Protagonisten der großen Parteien haben sich entschieden, die Risse im Gebälk zu ignorieren. Nach dem Motto: Wenn alles zusammenkracht, regieren längst andere.
Kanzler Olaf Scholz (SPD) und sein Herausforderer Friedrich Merz (CDU) wollen zuerst die Wahl gewinnen und sich frühestens hinterher mit den Problemen bei der Rente beschäftigen. Wenn überhaupt. Scholz hat versprochen, das Rentenniveau – also das Verhältnis von Renten zu Löhnen – dauerhaft stabil zu halten. Über die Kosten spricht er lieber nicht so viel.
Merz hat sich von den Erkenntnissen des eigenen Grundsatzprogramms verabschiedet, das eine perspektivische Erhöhung des Rentenalters nahelegt. Er will nicht, dass Scholz einen Rentenwahlkampf gegen ihn führen kann. Deshalb tut er jetzt einfach so, als müsse sich nicht so viel ändern. Die Wahlversprechen werden es noch schwieriger machen, Reformen anzupacken. Dabei wäre es wichtig, dass sich die nächste Bundesregierung mutig den Herausforderungen stellt. Sie darf dabei nicht nur in kleinen Schritten denken, sondern muss ein Konzept für die nächsten Jahrzehnte entwerfen.
Der US-Philosoph John Rawls hat für sein Konzept eines gerechten Gesellschaftsvertrags ein Gedankenexperiment vorgeschlagen: Jeder solle sich in eine Situation hineinversetzen, in der er selbst nicht wisse, wo in der Gesellschaft er steht – ob er zum Beispiel arm oder reich ist, jung oder alt. Dann ließen sich am besten faire Spielregeln für alle finden. Das muss der Geist sein, mit dem Politik und Gesellschaft nach dem Rentensystem der Zukunft suchen.
Es besteht große Einigkeit darin, dass jemand, der sein Leben lang gearbeitet hat, von der Rente möglichst gut leben können soll. Nur: Wie soll es finanziert werden? Wer – wie in Rawls’ Experiment angedacht – nicht wüsste, inwieweit er selbst betroffen ist, könnte sich vielleicht leichter mit dem Gedanken arrangieren: Wenn die Lebenserwartung steigt, muss auch ein wenig länger gearbeitet werden. Jedenfalls wenn es faire Lösungen für diejenigen gibt, die tatsächlich nicht mehr können.
Wer nicht wüsste, ob er selbst Rentner oder Beitragszahler ist, wäre wohl kaum dafür, die komplette Last des demografischen Wandels bei der jungen Generation abzuladen. Von dieser Erkenntnis ist es nicht weit bis zu dem Gedanken, wie fahrlässig die deutsche Politik bisher die Möglichkeit ungenutzt lässt, das Problem durch Kapitalmarktgewinne zu vermindern. Warum sollen nur die Reichen von boomenden Börsen profitieren und nicht auch, über die Rente, die breite Bevölkerung?
Und, mal ehrlich: Welcher Erwerbstätige, der im Unklaren wäre, ob er Arbeitnehmer oder Beamter ist, fände die gewaltigen Unterschiede in der Altersversorgung fair? Eine gemeinsame Rentenversicherung für alle zu schaffen, mag Jahrzehnte brauchen. Doch Politik muss bereit sein, so dicke Bretter zu bohren.
Die Lösung der Probleme bei der Rente ist möglich. Bislang gibt es aber noch nicht einmal eine ehrliche Debatte.