Menschen mit Trauma richtig unterstützen

Interview Katrin Boger arbeitet als Traumatherapeutin auch mit Kriegsflüchtlingen. Im Interview erklärt sie, wie sich eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt, wie man das erkennt und wie Ehrenamtliche Menschen mit Trauma nun am besten helfen können.

Beim Umgang mit traumatisierten Menschen gibt es einiges zu beachten.  Symbolfoto: Adobe Stock/Kittiphan

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Beim Umgang mit traumatisierten Menschen gibt es einiges zu beachten. Symbolfoto: Adobe Stock/Kittiphan

Viele Menschen nehmen gerade Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine auf oder engagieren sich. Ist den Menschen bewusst, was beim Umgang mit traumatisierten Menschen wichtig ist?

Viele haben ein großes Herz und möchten helfen, was wunderbar ist. Ich bewundere die Menschen und dieses Engagement ist wirklich genial. Aber ich glaube, viele sind sich nicht bewusst, was da auch noch kommen könnte. Manche, die jetzt zu uns kommen, könnten eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln.

Manche? Ist das so individuell?

Ja. Wir denken immer, jeder Geflüchtete, jeder, der Krieg erlebt hat oder vergewaltigt worden ist, muss traumatisiert sein. Das ist nicht automatisch der Fall. Ich behandle zum Teil Geflüchtete, die übers Mittelmeer gefahren sind, die gar nicht traumatisiert sind. Weil sie immer noch Bewältigungsstrategien hatten, das Gefühl, irgendwas organisieren oder machen zu können. Die haben so viel Resilienz mitgebracht, dass sie es bewältigen konnten. Und andere Menschen fühlen sich in einer Situation, die von außen gesehen vielleicht gar nicht so schlimm zu sein scheint, subjektiv total hilflos und ausgeliefert und entwickeln die Symptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung. Zum Beispiel gibt es jetzt hier in Deutschland Angehörige, die über Medien und Social Media sehen, was bei ihren Verwandten passiert, und die davon auch traumatisiert werden können, obwohl sie selbst gar nicht in der Ukraine sind. Zum Teil reicht das Wissen, dass einer Person, die einem wichtig ist, was ganz Schlimmes passiert. Je nachdem, was der Mensch an Bewältigungsstrategien mitgebracht hat, macht das einen Unterschied aus.

Wie entsteht so ein Trauma eigentlich?

Trauma ist ein großer Begriff. Sobald wir in eine Situation kommen, die für uns subjektiv extrem viel Stress auslöst, und wir für die Situation keine Bewältigungsstrategien haben – also nicht wissen, wie gehen wir damit um, und uns wirklich total hilflos ausgeliefert fühlen –, dann sind wir im Traumabereich. Zum Beispiel bei Kriegsereignissen liegt das Risiko, dass jemand Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung entwickelt, natürlich höher.

Das heißt, es dauert eine Zeit lang, bis sich die Folgen eines Traumas zeigen?

Zunächst reden wir von Akuttrauma während der Situation oder wenn dieses Trauma noch nicht abgeschlossen ist. Viele der Geflüchteten, die zu uns kommen, befinden sich noch im Akuttrauma. Sie sind vielleicht hier in Deutschland in Sicherheit, aber für sie ist das Trauma nicht vorbei, weil zum Beispiel Väter, Brüder, Angehörige noch im Krieg sind. Dann kommt die Phase der akuten Belastungsreaktion, wo wir versuchen, irgendwie selbst damit klarzukommen. Und erst wenn unsere eigenen Bewältigungsstrategien nicht ausreichen, nach etwa ein bis drei Monaten, reden wir von der posttraumatischen Belastungsstörung. Also dann, wenn die Selbstheilungskräfte nicht ausreichen, und dann brauchen wir auch professionelle Hilfe. Das ist ganz bedeutend, da ein Trauma sich nicht verwächst. Man kann Erlebnisse wegdrücken, verdrängen, aber sie werden nicht verarbeitet. Das merkt man zum Beispiel bei der Kriegsgeneration, die schon vor Jahrzehnten geflüchtet ist. Im Alltag kamen sie ganz gut zurecht, aber jetzt durch diesen neuen Krieg in Europa werden manche wieder getriggert und an ihre alten Erlebnisse erinnert. Die Erlebnisse kommen wieder.

Bei Geflüchteten, die gerade ankommen, kann sich das noch entwickeln?

Genau. Gerade sind sie noch beim Ankommen, beim Sprachkurse- und Schule-Organisieren, dabei, sich zu orientieren, vielleicht auch nach Wohnung und Arbeit zu suchen. Sobald aber die Menschen zur Ruhe kommen, also aus diesem Aktionsmodus heraus sind, und Zeit haben nachzudenken, dann kann es sein, dass der wirkliche Verarbeitungsprozess erst beginnt und dann die ganzen Bilder wieder auftauchen. Und je nachdem, wie viel Resilienz ein Mensch mitbringt, können sie es gut bewältigen oder müssen professionelle Unterstützung bekommen. Für viele ist das auch erschreckend. Man hat ein halbes Jahr gut funktioniert und dann passiert das auf einmal.

Wie äußert sich das, wenn man nicht genug Resilienz mitbringt?

Wenn das Trauma chronisch wird, tauchen plötzlich Bilder, Erinnerungen und Gedanken auf, ohne dass man es möchte. Fast wie ein Pop-up-Fenster auf dem Computer. Für Betroffene ist es so, als ob das traumatisierende Ereignis jetzt im Moment wieder passiert, sie erleben das wieder und verhalten sich auch so wie in der Situation, man redet von einem Flashback oder Intrusionen. Zum Beispiel fangen manche plötzlich an zu schreien, zu weinen und um sich zu schlagen oder sogar andere anzugreifen. Für Außenstehende kommt das scheinbar aus dem Nichts und Laien wissen gar nicht, was sie machen sollen. Und so was kann natürlich noch auf uns zukommen, wenn die Geflüchteten zur Ruhe gekommen sind und es eben nicht verarbeiten konnten.

Und was raten Sie den Helfern? Wie geht man mit so einer Situation um?

Was gut hilft, ist Außenwahrnehmung herzustellen. Man fordert die Person zum Beispiel auf, drei rote Dinge im Raum zu benennen. Man muss versuchen, sie über Sprache oder über starke Sinnesreize zu erreichen, ihnen etwas Kaltes oder Scharfes geben, sie irgendwas riechen lassen. Also alles, was hilft, sich selbst wahrzunehmen und ins Hier und Jetzt zu kommen. Ungünstig wäre es, Dinge persönlich zu nehmen oder die Leute anzufassen.

Welche Symptome gibt es sonst noch?

Häufig sehen wir Schlafstörungen, Albträume oder dass Betroffene sich wie weggetreten verhalten. Es gibt auch Vermeidungsverhalten, also dass sie bestimmte Orte und Situationen vermeiden, die sie an die Belastung erinnern könnten. Dazu gehört auch das Nicht-darüber-reden-Wollen oder auch, dass sie Gefühle vermeiden und dadurch kalt wirken. Man kann auch sehr schreckhaft oder dünnhäutig sein, vieles wird sehr persönlich genommen. Grade bei Kindern und Jugendlichen kann das Verhalten aggressiv werden. Mittel- und langfristig können sich auch sehr negative Gedanken verfestigen. Man ist wie in einem Tunnel und denkt, man muss immer alles alleine machen und ist auf sich allein gestellt. Für ehrenamtliche Helfer, die so viel gemacht haben, kann das schnell undankbar wirken, auch wenn es so gar nicht gemeint ist.

Kann es passieren, dass Ehrenamtliche das Gefühl haben, hier wird meine Hilfe nicht genug wertgeschätzt? Und dann aufhören zu helfen?

Das kann natürlich passieren. Als Helfer muss man sich bewusst sein, dass das Gegenüber sich in einer Ausnahmesituation befindet und dass man nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen sollte. Ich fände es schade, wenn diese große Hilfsbereitschaft anfängt zu kippen aufgrund von Erwartungen, Hoffnungen oder Wünschen an das Gegenüber, das vielleicht ganz anders reagiert, als man denkt. Oder aufgrund der eigenen Überforderung, wenn Helfer merken, dass Geflüchtete doch einen größeren Bedarf haben als gedacht. Hier kann mein Vortrag vorbereiten und hilfreich sein.

Was raten Sie allgemein im Umgang mit traumatisierten Menschen?

Was allgemein hilft, ist gute Struktur. Sodass der Tag vorhersehbar ist und nichts spontan gemacht wird. Ungünstig wäre es, den Menschen alles abzunehmen. Das Schlimmste wäre, den Menschen zu sagen, setz sich hin, ich habe dir schon alle Anträge ausgefüllt, du musst nur noch unterschreiben. Besser wäre die Hilfe zur Selbsthilfe. Wie kann ich sie unterstützen, damit sie selbst wieder aktiv werden können? Ein Weg aus dem Trauma ist auch das Gefühl, ich kann selbst was tun, um mit meiner Situation klarzukommen. Dass man etwas aus eigener Kraft schafft und aus der Opferrolle herauskommt.

Wenn Betroffene nun professionelle Hilfe benötigen, bekommen sie diese dann auch?

Schwierig. Ich hoffe, dass es besser wird als bei der Flüchtlingswelle 2015/16. Was ich mitbekommen habe, ist, dass zum Beispiel ukrainische Psychotherapeutinnen ehrenamtlich mit ihren Landsfrauen arbeiten. Und tatsächlich bieten Beratungsstellen schneller stabilisierende Unterstützung an, das ist auf jeden Fall positiv zu sehen. Nichtsdestotrotz müssen wir realistisch sein. Wir wissen, es gibt zu wenig Traumatherapeutinnen und Traumatherapeuten. In meiner Praxis habe ich über zwei Jahre Wartezeit. Und das ist ein großes Problem. Und das Problem ist politisch, da sich zu wenig Therapeuten niederlassen dürfen.

Das Gespräch führte Kristin Doberer.

Foto: privat
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Katrin Boger

Zur Person Katrin Boger hat begonnen als Kinder- und Jugendpsychotherapeutin, seit 2010 hat sie sich mit eigener Praxis in Aalen niedergelassen, außerdem arbeitet sie als Traumatherapeutin. Sie leitet das Weiterbildungszentrum für Pädagogik und Psychologie, ist Dozentin und Autorin.

Vortrag für Helfer Bei dem Vortrag „Einführung in die Arbeit mit traumatisierten Menschen“ am 16. Mai um 18 Uhr soll ein Überblick über die Entstehung von psychischen Traumata sowie deren Folgen und dem Umgang damit gegeben werden. Weitere Infos gibt es bei der katholischen Erwachsenenbildung Rems-Murr unter www.keb-rems-murr.de oder unter 07151/9596721.

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Erstellt:
13. Mai 2022, 06:00 Uhr

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