Messerstecher muss in eine Klinik
Mitten in der Nacht ist er auf Zugreisende am Stuttgarter Hauptbahnhof losgegangen. Wegen seiner psychischen Erkrankung kann der Mann aber nicht bestraft werden.
Von Christine Bilger
Stuttgart - Wenn schwere Verbrechen passieren, dann hat das Geschehen immer zwei Ebenen: zum einen die der äußeren, sichtbaren – und für die Opfer schmerzhaften bis lebensgefährlichen Tathandlung. Und zum anderen die Ebene im Inneren der Tatperson. Im Fall eines 26-Jährigen ist am Stuttgarter Landgericht deutlich geworden, wie beide zusammengehören, damit die Kammer zu einem Urteil kommt. Denn die äußere Handlung ist aufgrund eines Videos nachvollziehbar gewesen. Aber was im Inneren des Angreifers vorging, darüber gab das Gutachten eines Psychiaters Aufschluss.
Der Mann wurde nicht verurteilt. Obwohl alle im Gerichtssaal sehen konnten, wie er vor laufender Überwachungskamera erst auf einen Mann, dann auf eine Frau einstach. Die beiden saßen im Juli 2024 im Wartesaal nahe Gleis 1 des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Dort saß auch der Angeklagte. Bis er gegen 1.30 Uhr plötzlich aufstand, das Messer herauszog und auf den Mann einstach, der ihm am nächsten saß. Auch eine Frau attackierte er. Beide wurden lebensgefährlich verletzt. „Sie haben ein rechtswidriges schlimmes Verbrechen begangen“, beschrieb der Vorsitzende Richter der 19. Großen Strafkammer, Norbert Winkelmann, die Tat.
Was man auf dem Video aber nicht sieht, das sind die Vorgänge im Inneren des Mannes. Und die führten einerseits dazu, dass die Kammer den 26-Jährigen freisprach. Nicht, weil die Tat nicht schwerwiegend genug eingestuft worden wäre, sondern weil die Kammer zu der Ansicht gelangte, dass der 26-jährige Mann, der zum Tatzeitpunkt obdachlos war, psychisch krank ist. Eine „substanzinduzierte Psychose“, eventuell auch eine paranoide Schizophrenie habe ihn zum Täter gemacht. Zum einen berichtete der Mann bei seiner Vernehmung, er habe Stimmen in seinem Kopf gehört, die ihm befohlen hätten, mit dem Messer auf die Wartenden loszugehen. Die Stimmen hätten behautet, dass er in Gefahr sei. Deswegen habe er auch das Messer zur Selbstverteidigung dabeigehabt. „Aber das ist gerade das Gefährliche: Wenn man eines dabeihat, dann neigt man auch dazu, es in bestimmten Situationen zu benutzen“, sagte Winkelmann.
Der Mann und die Frau bekamen jeweils einen Stich ab. Der Mann wurde im Brustbereich getroffen. Er erlitt einen Pneumothorax und seine Lunge kollabierte. Er konnte im Krankenhaus gerettet werden. Auch die Frau wurde notoperiert. Ihre Verletzung im Bauchraum sei ebenfalls schwerwiegend gewesen. Die körperlichen Wunden seien verheilt, aber psychisch würden beide noch unter dem nächtlichen Angriff aus dem Nichts leiden.
Die Erkrankung des Beschuldigten habe ihre Wurzel in dessen Drogenkonsum. Seit der frühen Jugend nahm der Mann, der aus Franken stammt und vor gut fünf Jahren nach Stuttgart kam, so ziemlich alle illegalen Rauschmittel, an die er kam – der Vorsitzende Richter rasselte eine lange Liste herunter. Es reiche nicht aus, ihn nur einen Entzug machen zu lassen – zumal er das in der Vergangenheit mehrfach versucht habe und immer wieder rückfällig geworden war oder nicht durchhielt. Erst, wenn das medizinische Personal in der Klinik davon überzeugt wäre, dass der Mann keine Gefahr mehr darstelle, könne er wieder entlassen werden. „Der Klinikaufenthalt ist unbefristet“, machte ihm der Vorsitzende Richter Norbert Winkelmann deutlich. Neben dem Messerangriff Anfang Juli, der als versuchter Mord und versuchter Totschlag angeklagt gewesen war, hatten ursprünglich auch noch Schläge gegen zwei dänische Fußballfans Mitte Juni, ebenfalls im Zeitraum der Europameisterschaft, auf der Liste der Anklagepunkte gestanden. Diese Punkte wurden eingestellt, unter anderem um den Angegriffenen eine Fahrt aus Dänemark nach Stuttgart zur Zeugenaussage zu ersparen.