Abstimmung im Bundestag
Migrationsstreit wird zur Merz-Debatte
Die Aussicht, dass die Union erstmals mit den Stimmen der AfD einen Gesetzentwurf durch den Bundestag bringen könnte, mobilisiert Zehntausende Menschen zum Protest. Kommt es zum Beschluss?
Von Markus Brauer/AFP/dpa
Es hat viele Abstimmungen in dieser zu Ende gehenden Legislaturperiode im Deutschen Bundestag gegeben. Viele wichtige und auch manche weniger wichtige. Doch die beiden Abstimmungen in dieser Woche über die Migrationspläne der Union könnten zur einer politischen und gesellschaftlichen Zäsur in der Republik werden.
Die Reaktionen offenbaren nicht nur die kaum überbrückbaren Differenzen im Lager der demokratischen Parteien. Sie demonstrieren auch in erschreckender Weise, wie gespalten das Land, die Gesellschaft mittlerweile ist.
Wie reagieren die Regierungsparteien?
Bei den beiden Regierungsparteien, SPD und Grüne, ist der Unmut über Friedrich Merz’ Vorgehen groß. So groß, dass viele rot-grüne Politiker sich eine Koalition mit der Merz-Union nach der Bundestagswahl am 25. Februar kaum noch vorstellen können.
- Nach der Durchsetzung eines der zwei Unionsanträge mit Stimmen der AfD äußern SPD und Grüne zudem massive Zweifel an der Eignung von Friedrich Merz als Bundeskanzler: „Was Merz gemacht hat, nach diesem Wortbruch, nach dieser Kopflosigkeit: Dieser Mann darf auf keinen Fall mehr Kanzler werden“, mahnt der Grünen-Politiker Anton Hofreiter.
- Die SPD-Bundestagsabgeordnete Leni Breymaier erklärt: „Ich bekomme Würgereiz, wenn ich heute an eine große Koalition und Herrn Merz als Kanzler denke.“
- Der Vorsitzende des linken Flügels in der SPD, der Bundestagsabgeordnete Jan Dieren, meint: Merz habe sich mit dem gemeinsamen Abstimmen der Union mit der AfD im Bundestag als „unberechenbar“ erwiesen. „Ich hielte es für reinen Wahnsinn, Merz zum Kanzler zu wählen.“
- Der SPD-Bundestagsabgeordnete Erik von Malottki kommentiert: „Mit dieser Merz-CDU kann ich mir aktuell keine Zusammenarbeit vorstellen.“
Treibt Merz die Union in eine Minderheitsregierung?
Treibt Friedrich Merz - sollte er tatsächlich Kanzler werden - die Union in eine Minderheitsregierung, die bei Gesetzesvorhaben auf wechselnde Mehrheiten im Parlament angewiesen wäre. Ein Szenario, dass angesichts der politischen Zerrissenheit und wirtschaftlichen Flaute Deutschlands sowie der angespannten weltpolitischen Lage nicht gerade beruhigend wirkt.
Immerhin: Einen formalen Ausschluss einer Koalition mit der Union nach der Bundestagswahl fordert kein SPD-Abgeordneter. „Diese Ausschließeritis führt genau in das Chaos, in dem die Rechtsaußen das Land haben wollen“, warnt Leni Breymaier.
Wie bindend ist die zweite Abstimmung?
Während das Parlament sich auf die zweite Abstimmung vorbereitet, haben Zehntausende Menschen gegen eine gemeinsame Abstimmung von Union und AfD in der Migrationspolitik demonstriert. Dennoch könnte an diesem Freitag (31. Januar) ein Gesetz den Bundestag passieren, bei dem die Stimmen der AfD mit entscheidend sein könnten.
In dem von CDU und CSU eingebrachten Entwurf geht es um konkrete Regelungen zur Eindämmung der Migration. Bereits am Mittwoch (29. Januar) hatte die Union mit Hilfe der AfD einen Antrag zur Verschärfung der Migrationspolitik im Bundestag durchgesetzt.
Der Antrag hatte allerdings nur Appellcharakter. Die Empörung über das Vorgehen von Merz ist dennoch gewaltig. Und sie dürfte noch größer werden, sollte die Abstimmung heute zugunsten der Union ausgehen – und zwar wieder mit AFD-Stimmen. Zehntausende Menschen sind schon am Donnerstag (30. Januar) auf die Straße gegangen – unter anderem in Berlin, Freiburg, Hannover und München.
Der Migrations-Streit ist längst zu einer Causa Friedrich Merz geworden. Wenige Wochen vor der Wahl haben die Parteien das zentrale Thema gefunden. Und: Eine politische und gesellschaftliche Eskalation ist angesichts der aufgeheizten Stimmung im Land zu befürchten.
Worum geht es in dem Gesetzentwurf?
- Kern des Gesetzentwurfs der Unionsfraktion, zu dem die FDP, die AfD und das BSW bereits Zustimmung signalisiert haben, ist die Aussetzung des Familiennachzugs zu Geflüchteten mit eingeschränktem Schutzstatus. Zu dieser Gruppe gehören in Deutschland viele Syrer.
- Außerdem sollen die Befugnisse der Bundespolizei erweitert werden. Sie soll künftig, wenn sie in ihrem Zuständigkeitsbereich – also etwa an Bahnhöfen – Ausreisepflichtige antrifft, selbst für eine Abschiebung sorgen können.
- Die Union dringt in ihrem Entwurf überdies darauf, das Ziel einer „Begrenzung“ des Zuzugs von Ausländern wieder ins Aufenthaltsgesetz aufzunehmen. Das hatte die inzwischen auf Rot-Grün reduzierte Ampel-Koalition gestrichen.
Ist das Vorhaben neu?
Von März 2016 bis Juli 2018 war der Familiennachzug für sogenannt subsidiär Schutzberechtigte von der damaligen schwarz-roten Koalition ausgesetzt worden. Begründet wurde dies damals mit der Absicht, eine Überlastung bei der Aufnahme und Integration zu vermeiden. Seit August 2018 dürfen monatlich insgesamt 1000 Menschen als Angehörige von Menschen mit diesem Schutzstatus einreisen.
Der Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP sah eigentlich vor, dass der Familiennachzug auch zu Menschen aus dieser Gruppe wieder unbegrenzt möglich werden soll. Umgesetzt wurde dieses Vorhaben aber nicht.
Welche Abstimmungen hat es vorher gegeben?
Anders als der am Mittwoch angenommene 5-Punkte-Plan der Union hat der jetzt zur Abstimmung stehende Gesetzentwurf rechtliche Konsequenzen. Die Bundesregierung müsste die darin vorgeschlagenen Änderungen umsetzen, falls er denn beschlossen werden sollte.
Wie läuft die Abstimmung ab?
Im Bundestag wird über das „Zustrombegrenzungsgesetz“ namentlich abgestimmt. Bei diesem Verfahren wirft jeder Abgeordnete seine Stimmkarte ein. Am Ende wird veröffentlicht, wie jeder Einzelne abgestimmt hat. Notwendig ist eine einfache Mehrheit, also mehr Ja- als Nein-Stimmen. Die Union hat zusammen mit AfD, BSW und FDP eine Mehrheit im Bundestag.
Wie geht es weiter, falls der Bundestag zustimmt?
Dem Gesetzentwurf müsste auch der Bundesrat zustimmen. Da bislang keine Bemühungen zu erkennen sind, die Länderkammer um Fristverkürzung zu bitten, würde der Bundesrat erst im März – also nach der für den 23. Februar geplanten Bundestagswahl – entscheiden. Ob es für das Vorhaben im Bundesrat eine Mehrheit geben wird, ist allerdings fraglich.
- Sollte das Gesetz von Bundestag und Bundesrat beschlossen werden, will die SPD möglicherweise vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. Die von der Union angestrebten Verschärfungen der Migrationsregeln müssten in Teilen „absolut verfassungsrechtlich geprüft werden“, betont SPD-Generalsekretär Matthias Miersch. „Insofern halten wir uns diesen Weg auf alle Fälle offen.“
Was sagen die Parteien vor der Abstimmung?
- Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wirft seinem Kontrahenten Friedrich Merz vor, man könne ihm bei der Frage einer möglichen Zusammenarbeit mit der AfD nicht mehr trauen. Merz habe mit Blick auf den Unionsgesetzentwurf gesagt, ihm sei egal, wer zustimme. „Das ist eine Politik, die nicht auf Konsens und Kooperation ausgerichtet ist, sondern die genau das will, nämlich die Zustimmung der AfD“, mahnt Scholz.
- Friedrich Merz appelliert erneut an die SPD. „Ich gebe bis zum Schluss die Hoffnung nicht auf, dass die Sozialdemokraten die Kraft finden, dem Vorschlag von uns zuzustimmen“, sagte er bei einem Wahlkampfauftritt in Dresden.
- Der SPD-Innenpolitiker Dirk Wiese erteilt Merz eine klare Absage. Die Union habe ernsthafte und konstruktive Gespräche zur inneren Sicherheit und zu Migrationsfragen immer wieder abgelehnt. „Jetzt uns kurzerhand diesen unausgegorenen Gesetzentwurf präsentieren in Friss-oder-stirb-Manier? Da gehen wir ganz sicher nicht mit.“
- Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge warnt die Union eindringlich davor, erneut mit der AfD abzustimmen. „Mittwoch war der Tabubruch. Freitag wäre die Wiederholungstat.“
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann verteidigt das Vorgehen der Union. „Wir stimmen nicht gemeinsam mit AfD. Mir ist völlig egal, was sie machen.“ Wenn man aus Angst, „dass irgendjemand zustimmen könnte“, nicht nach seiner Überzeugung handele, so Linnemann weiter, „dann ist das kein Parlament mehr, kein demokratisches Parlament“.