Kingdom Come: Deliverance II

Mittelalter-Open-World-Spiel setzt Maßstäbe – verlangt aber Durchhaltevermögen

Das jüngst erschienene Open-World-Mittelalterspiel „Kingdom Come: Deliverance II“ macht viele Dinge anders als andere Genrevertreter. Wer bereit ist, sich aus seiner Komfortzone zu begeben, wird mit einer einmaligen Spielerfahrung belohnt.

Zum Schneiden dichte Mittelalteratmosphäre – fast das gesamte Spiel erlebt der Protagonist aus der Ego-Perspektive.

© Deep Silver/Screenshot

Zum Schneiden dichte Mittelalteratmosphäre – fast das gesamte Spiel erlebt der Protagonist aus der Ego-Perspektive.

Von Sascha Maier

Videospiele, ziemlich egal welchen Genres, lassen sich häufig in grob zwei Kategorien aufteilen: Solche, die es mit der Wirklichkeit nicht so genau nehmen und sogenannte Casual-Gamer ansprechen wollen, mit dem Ziel, Spaß zu machen, flott von der Hand zu gehen und für Kurzweil zu sorgen. Und solche, die einen simulativen Ansatz verfolgen, oft schwieriger zu meistern sind und dadurch motivieren wollen, bei den Spielenden im Moment des Meisterns von Herausforderungen ein Glücksgefühl auszulösen.

Welchen dieser Ansätze „Kingdom Come: Deliverance II“, dem Deep Silver als Publisher dient, verfolgt, wird bereits kurz nach Spielbeginn klar, als sich unsere Spielfigur Heinrich in einer Schmiede wiederfindet. Um das Schwert der Schwerter mit einem Knopfdruck zu schmieden? Mitnichten: Das Schmiedehandwerk zu erlernen ist eine Mühsal, der Schmiedemeister beauftragt Heinrich damit, Hufeisen zu herzustellen, jedes einzelne wird in einem monotonen Minispiel auf beiden Seiten gleichmäßig beschlagen, zwischendrin erhitzt, beschlagen, dann ist das nächste dran.

Worum geht es?

Arbeit fühlt sich in dem Videospiel des tschechischen Entwicklers Warhorse Studios nach Arbeit an. Denn was fürs Schmieden gilt, gilt für nahezu alle Tätigkeiten des Open-World-Spiels, das im böhmischen Mittelalter angesiedelt ist: Tränke zu brauen ist Fleißarbeit, Schlösserknacken fummelig, die Kämpfe chaotisches Hauen und Stechen – also alles so, wie es auch der heutige Durchschnittsbürger erleben würde, wäre er erstmals vor mittelalterliche Herausforderung gestellt.

All das erleben Spielende durch die Augen von Heinrich aus der Egoperspektive, nur in Dialogen und Zwischensequenzen zoomt die Kamera mal raus und erzählt die Geschichte mit dem Anspruch, historische Details wirklichkeitsgetreu wiederzugeben, in schicken Zwischensequenzen.

Welche Freiheiten gibt es?

Denn anders als viele andere Genrevertreter mit Mittelalter-Touch kommt Kingdom Come Deliverance komplett ohne fantastische Elemente aus. Unsere Spielfigur Heinrich wird in den realen Konflikt des 15. Jahrhunderts geworfen, als das Land im Bürgerkrieg versank, da es im Hochadel bei der Frage nach der Thronfolge Meinungsverschiedenheiten gab.

Wie sich Heinrich, kein Blaublüter, in dieser verworrenen Zeit durchschlägt, bleibt über weite Strecken dem Menschen hinter dem Controller überlassen. Mit oben genanntem Fähigkeitenrepertoire, das in in einem komplexen und motivierenden Charakter-Entwicklungssystem ausbaubar ist (wer hunderte Hufeisen geschmiedet hat, wird vielleicht wirklich eines Tages das schärfste Schwert Böhmens schmieden), führt der Weg vom Niemand zum Jemand über Gold, Geschick in Dialogen, Muskelkraft oder heimliches Vorgehen.

Zwar können wir die Hauptstory nicht so extrem beeinflussen wie in anderen Rollenspielen – die Geschichte des innerböhmischen Konflikts ist schließlich geschrieben. Dennoch lassen sich die Herausforderungen so vielseitig angehen, wie das in nur ganz wenigen Videospielen der Fall ist.

Was taugt die Open World?

Das liegt vor allem an der Ausgestaltung der eigentlich unspektakulär klingenden Spielwelt: Zwei offene Gebiete gibt’s zu erkunden, eine Pampa aus böhmischen Wäldchen, Dörfern und Seen, später geht es in die größere Stadt Kuttenberg und deren Umgebung. Warum das viel besser ist, als die so viel spektakuläreren Orte, die Spielende oft in anderen Open-World-Games bereisen dürfen: Die NPCs, also computergesteuerten Charaktere, denen wir begegnen können, haben mehr Algorithmen als in fast allen anderen Konkurrenztiteln unter der Haube und reagieren in einer Art und Weise auf Heinrichs Handeln, das ganz neue Maßstäbe setzt.

So verhalten sich die NPCs zu wirklich fast jeder möglichen Tasteneingabe. Waffe ziehen, verdächtiges Herumschleichen, Steinchen werfen, zu schnell durch die Stadt reiten, durchs fremde Gemüsefeld laufen und, und, und. Wo solche Dinge in anderen Titeln zumeist komplett ohne Konsequenzen bleiben, entspinnt Kingdom Come: Deliverance II alleine durch die reaktiven NPCs komplette, individuelle Geschichten: Wenn Heinrich beim Diebstahl ertappt wird, ruft das Opfer die Wachen, der Überzeugungsversuch, sich herauszureden, scheitert womöglich, es folgt die Flucht zu Pferde in den Wald. Heinrich, zumindest auf Zeit in dem Dorf Persona non grata, schleicht sich nachts wieder hinein, entschuldigt sich bei der Bestohlenen und und diese nimmt die Entschuldigung unter Umständen tatsächlich an, was unserem Heinrich dabei hilft, bei einer aktuellen Quest dennoch den entscheidenden Hinweis zu erhalten; denn deswegen ist er eigentlich überhaupt erst hergekommen. Zum Dieb wurde er – nun ja, durch die Gelegenheit.

Nichts davon war in irgendeiner Weise von den Entwicklern vorgeskriptet – aber die perfekt ineinandergreifenden Systeme führen dazu, dass die tumb klingende Aufgabe wie „Erfrage bei Person X in Dorf Y Informationen zum Aufenthaltsort von gesuchter Person Z“ in einem eigenen kleinen Abenteuer mit Verfolgung durch den Wald und nächtlichen Schleicheinlagen vorbei an den Stadtwachen gipfelt. Alles nur, weil wir uns unbeobachtet wähnten, als wir den Apfel aus der Schale auf dem Esstisch stahlen. Solche Verkettungen von Ereignissen sind in Kingdom Come: Deliverance II die Regel, nicht die Ausnahme.

Was sind die Kritikpunkte?

Damit das so funktioniert, bedienen sich Entwickler im Wesentlichen zweier Kniffe, von denen zumindest einer unter der Spielerschaft nicht unumstritten ist: Es gibt keine freie Speicherfunktion. Nur über begrenzte Items, dem Schlafen in Betten oder an einigen Storypunkten wird der Fortschritt gesichert. Das führt einerseits dazu, dass spontaner Schabernack wie Äpfel klauen Konsequenzen hat, mit denen Heinrich umgehen muss, ohne einfach neu laden zu können, wenn die Dinge außer Kontrolle geraten. Andererseits sind dadurch aber auch Frustmomente programmiert, sollte Heinrich in einen Hinterhalt von Räubern geraten und die letzte halbe Stunde seit dem letzten Checkpoint erneut gespielt werden müssen.

Denn der zweite Kniff ist: Heinrich fühlt sich auch in Kämpfen sehr menschlich und fragil an und so bleibt es auch später im Spiel. Selbst mit dem schärfsten Schwert, der besten Rüstung und vielen Spielstunden Erfahrung im Kampfsystem kann er vielleicht noch den zwei, drei Wegelagerern irgendwie beikommen. Sollte er aber versuchen, nach dem Apfelklau die zur Hilfe gerufenen, ordentlich bewaffneten Wachen einfach zu verkloppen: Das ist zumindest für Normalsterbliche am Pad schlicht unmöglich. Auch hier verfolgt das Spiel einen gnadenlosen Realismuseinsatz: Ein Ausnahmeschwertkämpfer gegen eine Handvoll Strauchdiebe? Kann klappen. Gegen zehn Ritter gleichzeitig? Niemals.

Der technische Zustand zum Release?

Vielleicht ist es auch ein geschickter Trick der Entwickler, das Spielende aufgrund der Tragweite des eigenen Handelns das System nicht so leicht auf etwaige Schwächen hin austesten können. Ob die Wachen uns nach dem Diebstahl einfach ignoriert hätten, wenn wir dem Ort einige In-Game-Tage ferngeblieben wären? Keine Ahnung, hier gibt es für die Community auf jeden Fall genug herauszufinden, das Spiel produziert bereits jetzt Was-passiert-wenn-Videos auf Portalen wie Youtube. Zudem fällt der Umfang des Spiels riesig aus. Wer nicht durch die Hauptstory hetzt, bekommt hier an die hundert Stunden Sinnvolles zu tun.

Wem hier einiges aus Teil I bekannt vorkommt – schließlich ist „Kingdom Come: Deliverance II“ eine Fortsetzung: ein stückweit stimmt das. Auch im ersten Teil steckte sich Warhorse extrem ambitionierte Ziele, was das Erschaffen einer glaubwürdigen Spielwelt angeht. Während der erste Teil sich aber häufig wie ein Gesellenstück anfühlte, dessen Technik spürbar knarzte, ist der Nachfolger deutlich geschliffener und geht, gerade was das NPC-Verhalten angeht, noch deutlich weiter. Trotzdem sollte Spielenden klar sein, dass ein derart komplexes Werk niemals so kantenlos und poliert daherkommen wird, wie linearere Spielerlebnisse – absolute Ausnahmetitel mit Hunderten Millionen Dollar Entwicklungsbudget wie die GTA-Reihe vielleicht ausgeklammert. Auch was Grafik und Charaktermodelle angeht: Die Spielwelt ist stimmungsvoll und hübsch, aber bitte keine butterweichen „Cyberpunk 2077“-Gesichtsanimationen erwarten. Die übrigens komplett deutsche Vertonung des Spiels ist sehr solide.

Muss man Teil I kennen?

Der Einstieg in die Geschichte sollte dagegen auch Neulingen nicht allzu schwer fallen. In Traumsequenzen werden die Ereignisse aus Teil I zusammengefasst und Spielende ohnehin schnell mit viel drängenderen Fragen beschäftigt, als jener, wie nun die Ränkespiele im Vorgänger ausgingen. Heinrich treiben aufgrund der dramatischen Ereignisse zu Beginn des Spiels ohnehin ganz andere Sorgen um: Wo kriege ich ein Bett, Nahrung, ein paar Groschen, eine halbwegs brauchbare Waffe her?

Denn auch einige Survival-Elemente haben es ins Spiel gefunden – Heinrich wird schwächer oder uneffektiver bei allem, was er tut, wenn er müde oder hungrig ist. Als wirklich störend empfanden wir das nie, im Gegenteil: Die Immersion wird dadurch, dass die Märsche oder Ritte, wenn man ein Pferd besitzt, durchs böhmische Mittelalter gut geplant sein wollen, noch weiter erhöht.

Unser Fazit

„Kingdom Come: Deliverance II“ schafft am Ende keinen Spagat zwischen der kurzweilinteressierten Casual-Spielerschaft und den simulationsaffinen Hardcore-Gamern – und will das auch gar nicht. Mit der zweiten Zielgruppe klar vor Augen liefert Warhorse die konsequenteste und beste Version einer mittelalterlichen Welt ab, die es je im Gaming-Bereich gegeben hat. Wem das mittelalterliche Leben auch als Spiel zu unbequem ist: Absolut verständlich. Alle anderen sollten sich dieses Meisterwerk nicht entgehen lassen.

„Kingdom Come: Deliverance II“ ist für Playstation 5, XBox und PC erschienen und je nach Version ab etwa 60 Euro erhältlich.

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Erstellt:
12. Februar 2025, 18:52 Uhr
Aktualisiert:
12. Februar 2025, 20:06 Uhr

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