Kindesmissbrauch
Neuer Horrorprozess erschüttert Frankreich
Ein pädophiler Chirurg hat über die Jahre rund 300 betäubte Kinder sexuell missbraucht. Familie, Ärzte und Behörden wollen nichts bemerkt haben.
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© AFP/Benoit Peyrucq
Der angeklagte Chirurg bei einem früheren Missbrauchsprozess 2020; trotzdem konnte er weiterarbeiten.
Von Stefan Brändle
Am 24. Februar beginnt in Vannes (Bretagne) ein Prozess gegen einen Chirurgen, der bei seiner Arbeit jahrelang Kinder unter Narkose sexuell missbraucht haben soll. Nach dem weltweit beachteten Gerichtsfall um die Vergewaltigungen der von ihrem Mann betäubten Französin Gisèle Pelicot steht Frankreich vor einem weiteren Monsterprozess: Um die mehreren hundert Zivilkläger unterzubringen, findet er findet gleich in drei Sälen statt.
Der Angeklagte Joël Le Scouarnec soll sich an den Jungen und Mädchen in diversen Kliniken und Krankenhäusern vergangen haben, in denen er tätig war. Oft nützte er dazu die Narkose aus; anderweitige Berührungen in der Unterleibsgegend rechtfertigte er mit medizinischem Interesse.
Verbrechen minutiös notiert
All dies hielt der heute 72-jährige Opern- und Literaturliebhaber in einem schwarzen Tagebuch minutiös fest. Einmal freute er sich, dass er am gleichen Tag vier Kinder missbraucht habe. Gegenüber der Untersuchungsrichterin behauptete er, er habe nur sexuelle Fantasien notiert. Sie stimmen allerdings genau mit den klinischen Daten überein. Die Opfer, 158 Jungen und 141 Mädchen, waren namentlich aufgeführt, dazu Zeitpunkt und Art des Vergehens.
Einige der anästhetisierten Opfer (viele sehr jung) hatten Erinnerungsblitze, als sie mit den Tagebucheinträgen konfrontiert wurden. „Ich hatte plötzlich ein Flashback von einem Mann, der in mein Krankenhauszimmer tritt“, erzählte eine Klägerin. „Er hält die Decke hoch und sagt, er wolle etwas überprüfen.“ Eine andere Frau sagte: „Als man mir ein Foto von Le Scouarnec zeigte, kam alles zurück. Ich erinnere mich sehr genau an seinen eisigen Blick.“
Wie konnte es sein, dass dieser pädophile Chirurg trotz aller Indizien und Hinweise fast dreißig Jahre tätig war, ohne aufzufliegen? Der US-Geheimdienst FBI hatte die französischen Behörden 2004 informiert, dass Le Scouarnec auf russischen Pädophilen-Webseiten mit seiner Kreditkarte bezahlt habe. Der Bretone, der nach seiner Scheidung allein mit aufblasbaren Sexpuppen in Kindergröße in seiner Wohnung lebte, wurde darauf einvernommen und zu einer viermonatigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt. Dabei blieb es aber. Niemand kam auf die Idee, ihm eine Therapie aufzuerlegen oder seine Berufsausübung zu überprüfen, wenn nicht zu untersagen.
Sechsjährige bringt den Fall ins Rollen
Als Le Scouarnec in Quimperlé einen neuen Posten antrat, alarmierte ein Berufskollege immerhin die regionale Ärztekammer. Die entschied mit elf Stimmen bei einer Enthaltung, den Chirurgen im Amt zu belassen. Bis ein sechsjähriges Mädchen seinen Eltern von seltsamen Handlungen des Doktors erzählte. Erst jetzt begannen die Ermittlungen richtig. Im Haus des Täters fand die Polizei unter einer Matratze zwei Festplatten mit 300 000 pädophilen Bilder und dem schwarzen Tagebuch. Endlich wurden auch die Opfern informiert. Auf all seine Notizen und Bilder angesprochen, sagte er in der Untersuchung, er sei „überrascht von dem Ausmaß“. Das Urteil soll im Juni ergehen.