Kanzler zu Migration, Steuern und Trump
Olaf Scholz: „Was Herr Merz vorschlägt, verstößt gegen das Grundgesetz“
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) fordert im Interview, die bestehenden gesetzlichen Möglichkeiten im Kampf gegen irreguläre Migration konsequent anzuwenden. Unionskandidat Friedrich Merz wirft er fehlende „staatsmännische Weitsicht“ vor.
Von Tobias Peter und Ellen Hasenkamp
Es ist ein Gebäude mit rauen Fabrikcharme. Hier war mal ein Kraftwerk, dann eine Schreibmaschinenfabrik – heute ist die „Zentralheize“ in Erfurt ein Ort für Veranstaltungen wie die des Kanzlers, der hier im Wahlkampf auftritt. Anschließend nimmt er sich Zeit für ein Interview und stellt sich den Fragen zur Migrationspolitik, den hohen Preisen und dem richtigen Umgang mit Donald Trump.
Der Schock im Land über die Gewalttat von Aschaffenburg, bei der auch ein zweijähriger Junge von einem Mann aus Afghanistan getötet wurde, ist immer noch groß. Sie haben gesagt, sie seien „es leid“. Was genau sind Sie leid?
Ich bin es leid, wenn es immer wieder zu solchen furchtbaren Taten kommt. Ich bin es leid, dass viele rechtliche Möglichkeiten, die wir geschaffen haben, nicht genutzt werden. Das kann und darf so nicht weitergehen. Es muss einen Ruck geben und einen Mentalitätswandel – auf allen Ebenen.
Wer konkret hat versagt?
Genau das gilt es jetzt herausfinden. Denn ganz offensichtlich hat es Fehler gegeben. Wieso war der Täter überhaupt noch im Land, obwohl sein Aufenthaltsstatus abgelaufen war? Wieso sind die bayerischen Behörden nicht konsequenter gegen ihn vorgegangen, trotz vieler bekannter Vergehen? All das kann man doch niemandem mehr erklären.
Muss sich die Migrationspolitik jetzt grundlegend ändern?
Eines vorweg: Wir müssen immer prüfen, ob es weiterer gesetzlicher Regelungen bedarf. Genauso wichtig ist es aber, die bestehenden rechtlichen Möglichkeiten konsequent anzuwenden. Als Bundeskanzler habe ich Kontrollen an allen deutschen Grenzen veranlasst, die müssen wir beibehalten. Ich habe durchgesetzt, dass Abschiebungen schneller und leichter möglich sind. Nun schieben wir Straftäter nach Afghanistan ab und werden das wieder tun. Ich habe den Ausreisegewahrsam für 28 Tage durchgesetzt. Die 16 Länder sollten mehr Plätze schaffen für Ausreisegewahrsam und Abschiebehaft. Und sie müssen Dublin-Zentren errichten, um schnellere Rückführungen zu gewährleisten – bislang gibt es das nur in einem Land, in Hamburg.
Vielleicht wurden die rechtlichen Möglichkeiten auch deswegen nicht ausgeschöpft, weil die Zuständigen sagen: „Wir schaffen es nicht mehr, es sind zu viele Menschen zu uns gekommen.“
Niemand darf seine Hände in den Schoß legen. Keine Frage, wir müssen die Zahlen runterkriegen. Deshalb haben wir gehandelt – mit Erfolg: Im abgelaufenen Jahr ist die irreguläre Migration um 30 Prozent zurückgegangen. Und die Rückführungen sind um 20 Prozent gestiegen. Das ist ein Anfang, jetzt dürfen wir aber nicht nachlassen. Die Zuständigen auf allen Ebenen – ob im Bund, in den Ländern, in den Kommunen oder in den knapp 600 Ausländerbehörden – müssen konsequent unsere Regeln durchsetzen. Diese Regeln sind im Übrigen ganz im Sinne der vielen Frauen und Männer, die aus anderen Ländern zu uns kommen, hier leben, mit anpacken und sich nichts vorwerfen lassen müssen. Sie gehören zu uns.
Ihr CDU-Herausforderer Friedrich Merz will einen faktischen Einreisestopp verhängen – und zwar am ersten Tag seiner möglichen Kanzlerschaft.
Mit den Grenzkontrollen, die ich eingeführt habe, sind wir am Limit dessen, was das Grundgesetz und die Europäischen Verträge erlauben. Was Herr Merz vorschlägt, verstößt gegen das Grundgesetz und europäische Verträge. Das geht doch nicht, Polizisten aufzufordern rechtswidrig zu handeln. Das geht in einem demokratischen Rechtsstaat doch nicht.
Vielen Menschen spricht Merz mit seiner harten Ankündigung aus dem Herzen.
Es zeugt nicht von staatsmännischer Weitsicht, wenn man markige Ankündigungen macht, die man nicht umsetzen kann. Ankündigungen, die schnell von Gerichten kassiert werden und die man kleinlaut zurücknehmen muss.
Sind Sie bereit, sich mit Merz zu einigen?
Unter Demokraten muss man immer den Kompromiss suchen. Herr Merz war es, der zweimal unser Gespräch über eine gemeinsame Asylpolitik abrupt beendet hat. Und ja, ich hatte lange den Eindruck, dass man sich auf die Aussage des Oppositionsführers verlassen könne, nicht mit der AfD zusammenzuarbeiten. Nun mache ich mir wirklich Sorgen.
Eine der zentralen Fragen in diesem Wahlkampf ist, wie es für Deutschland wirtschaftlich weitergeht. Sie haben mal Wachstumsraten wie in den 50er und 60er Jahren versprochen. Merz will mittelfristig von mindestens zwei Prozent erreichen. Was ist realistischer?
Die Weltwirtschaft schwächelt, was uns als Exportnation besonders trifft. Doch wir können die Wachstumsbedingungen in Deutschland deutlich verbessern. Durch die Modernisierung unserer Industrie und den Abbau von Bürokratie …
… aber das wird schon seit Jahren versprochen.
Allein in meiner Amtszeit haben wir mehrere umfangreiche Pakete zum Bürokratieabbau geschnürt. Und viele Verfahren beschleunigt. Beim Ausbau der Energieinfrastruktur merkt man das neue Tempo schon, in anderen Bereichen gelten die neuen Regelungen gerade erst. Gleichwohl ist das nur der Anfang einer längeren Geschichte. In Brüssel, in Bonn und Berlin ist jahrzehntelang mit viel Liebe zum Detail ein bürokratisches Regelwerk entstanden, dass wir in kürzester Zeit in Ordnung bringen müssen. Und es muss sich auch die Haltung in den Behörden ändern: Statt alles durch langwierige und aufwändige Gutachten abzusichern, müssen die Verantwortlichen wieder mehr Eigenverantwortung zeigen. Vor allem anderen aber muss in Deutschland mehr investiert werden: Dafür schlage ich den Made-in-Germany-Bonus als Steuerprämie vor, die private Ausrüstungsinvestitionen begünstigt. Und wir müssen als Gemeinwesen mehr in die Infrastruktur investieren.
Wie wird das alles bezahlt?
Mein Vorschlag: ein Deutschland-Fonds, der öffentliches und privates Kapital bündelt. Und eine Reform der Schuldenbremse. Ich bin grundsätzlich für eine Verschuldungsgrenze im Grundgesetz, ich habe sie selbst damals mitbeschlossen. Aber – da teile ich die Meinung vieler Expertinnen und Experten – sie ist in der aktuellen Fassung nicht mehr zeitgemäß.
Wie überzeugen Sie eine Busfahrerin oder einen Krankenpfleger, die sagen, wegen der hohen Preise gehe es ihren Familien schlechter als vor drei Jahren?
Die Zeiten sind schwierig. Ohne einen sozialdemokratischen Kanzler wären sie aber noch schwieriger. Denn die Ursache der Probleme ist der Überfall Russlands auf die Ukraine und, dass Russland seine Gaslieferungen nach Deutschland eingestellt hat. Wir müssen nun zum einen viel mehr Geld für unsere Sicherheit ausgeben und zum anderen haben wir mit höheren Preisen für fossile Rohstoffe zu tun. Allerdings: Wir haben gute Aussichten, wenn wir die Digitalisierung vorantreiben, in Forschung und Entwicklung investieren und bei Zukunftstechnologien vorne dabei sind.
Was hat die Busfahrerin davon?
Der Vorschlag der SPD: Steuerentlastungen für 95 Prozent der Bürgerinnen und Bürger. Auch ein höherer Mindestlohn hilft, den wir auf 15 Euro anheben wollen, und es helfen höhere Löhne in der Breite. Die Inflation bleibt eine Herausforderung. Deswegen wollen wir die Mehrwertsteuer auf Lebensmittel absenken, auch davon hat die Busfahrerin etwas.
Wir führen dieses Gespräch in Thüringen, einem Bundesland, wo die AfD stärkste Partei geworden ist. Warum diese Zustimmung – auch im Bund?
Der Blick auf Deutschland, Europa und die Welt zeigt: Extrem rechte Parteien werden vielerorts stärker. In Ländern, denen es vergleichsweise gut geht, ist die Stimmung schlecht. Das hat damit zu tun, dass viele unsicher in die Zukunft blicken.
Was tun?
Man kann natürlich krampfhaft behaupten, früher war alles besser. Es gibt aber kein Zurück in die Vergangenheit. Wir müssen es schon schaffen, bei dem, was die Zukunft ausmacht, vorne dabei zu sein: bei grüner Stahl- und Chemieproduktion, bei einer Automobilindustrie, die weltweit auch mit Elektrofahrzeugen erfolgreich ist. Und wenn alle sicher sind, dass sie auch in Zukunft gut zurechtkommen, werden die weniger Zulauf erhalten, die auf Verunsicherung und Spaltung setzen.
Sie haben gesagt, im Wahlkampf werde das deutsche Volk belogen. Machen Sie diesen Vorwurf konkret auch ihrem Herausforderer Merz?
Es ist offensichtlich, dass die CDU eine wichtige Frage nicht diskutieren möchte: Wer bezahlt die Zeche? CDU und CSU wollen für diejenigen mit den höchsten Einkommen Steuersenkungen für mindestens 20 Milliarden Euro. Es ist eine Illusion, dass sich das von selbst finanziert. Am Ende werden die ganz normalen Leute für diese Rechnung aufkommen müssen. Ich halte es für unehrlich, das zu verschweigen. Und vergessen wir nicht, dass wir ab 2028, also in der nächsten Legislaturperiode auch noch 30 Milliarden Euro zusätzlich für die Bundeswehr schultern müssen.
Und wer bezahlt all die SPD-Pläne zum Beispiel für Infrastruktur, Bildung und Bundeswehr? Die Unternehmen, aber auch viele Steuerzahler fürchten zusätzliche Belastungen.
Die Vorschläge der SPD führen dazu, dass zum Beispiel der Bundeskanzler etwas höhere Steuern zahlt. Aber der verdient ziemlich viel Geld. Und deshalb ist es gerecht, wenn er einen höheren Beitrag für das Gemeinwesen leistet. Ich finde, das ist ganz einfach zu verstehen. Die, die zu dem Top-einen-Prozent mit den höchsten Einkommen gehören, können etwas mehr zahlen. Dafür werden 95 Prozent entlastet. Wir wollen Investitionen in unser Gemeinwesen mit dem schon erwähnten Deutschlandfonds bewältigen, und wie beschrieben die Schuldenregel reformieren. Übrigens: Unsere G7-Partner Italien, Frankreich, Großbritannien, die USA, Kanada, Japan haben mehr als 100 Prozent Staatsverschuldung, steigend. Unsere sinkt in Richtung 60 Prozent.
Es gibt in Deutschland über eine Million Millionäre und immerhin 130 Milliardäre. Wie viel sollen die zahlen?
Ich freue mich mit allen, die so viel Vermögen erworben haben – ob durch eigene Leistung oder durch Erbschaft. Es geht nur um einen kleinen Beitrag für etwas mehr Gerechtigkeit.
Seit einigen Tagen ist Donald Trump als US-Präsident im Amt: Konzilianz oder Härte – was wird Ihre Linie ihm gegenüber sein?
Deutschland und Europa wollen mit den Vereinigten Staaten kooperieren. Die USA sind unser wichtigster Verbündeter. Für mich ist im Umgang mit Trump klar: Es hilft nicht, sich zu anzubiedern – und zu hoffen, dass man dann besser behandelt wird. Europa ist ökonomisch stark und ist politisch stark, wenn wir zusammenstehen.
Wie ist es eigentlich, mit Trump zu telefonieren?
Die beiden Telefongespräche, die ich mit ihm geführt habe, waren freundlich. Wir haben ausführlich über die Ukraine gesprochen. Mein Ziel ist, dass Europa und die USA gut zusammenarbeiten. Nach diesen Gesprächen halte ich das für möglich.
Geht der Krieg in der Ukraine dieses Jahr zu Ende?
Das wünschen sich alle Ukrainerinnen und Ukrainern. Und ich mir auch. Ob es möglich sein wird, lässt sich schwer vorhersagen. Wladimir Putin hat keines seiner Ziele erreicht. Er wollte zum Beispiel eine Ukraine ohne Militär. Sie hat jetzt knapp eine Million Soldaten. Er wollte die Nato schwächen, sie ist stärker denn je; mit Schweden und Finnland als neuen Mitgliedern. Und er wollte die Ukraine von Europa fernhalten, jetzt ist sie auf dem Weg in die EU. Die Ukraine hat für ihre Freiheit einen hohen Preis an Menschenleben zahlen müssen. Deshalb ist es wichtig, alle diplomatischen Möglichkeiten zu nutzen, um den Krieg zu beenden. Aber nur die Ukraine kann entscheiden, wozu sie deswegen bereit ist. Niemand sonst.
Kann Trump hier eine gute Rolle spielen?
Das wünsche ich mir. Am wichtigsten ist, dass die USA und Europa gemeinsam klarmachen, dass wir die Ukraine weiter unterstützen. Dass Putin nicht darauf rechnen kann, dass wir nachlassen. Sonst wird er nicht verstehen.
Das Vernichtungslager Auschwitz wurde vor 80 Jahren, am 27. Januar 1945, befreit. Laut einer Umfrage hat in Deutschland jeder zehnte junge Erwachsene den Begriff Holocaust noch nicht gehört. Überrascht Sie das?
Es muss uns bedrücken, wie viele junge Menschen in Deutschland kaum noch etwas über den Holocaust wissen. Das ist eine Mahnung und ein Auftrag an uns alle, daran etwas zu ändern. Mir ist es wichtig, dass wir möglichst vielen jungen Menschen ermöglichen, mit den noch lebenden Zeitzeugen zu sprechen. Und wir müssen die Erinnerung hochhalten, wenn die letzten Zeugen einmal nicht mehr leben.
Der frühere US-Präsident Barack Obama hat am Wahltag immer Basketball gespielt. Haben Sie auch ein solches Ritual?
Ich hatte mal an Wahlabenden das Ritual, das Lieblingsessen der Konkurrenz zu essen. Im Jahr 1998, als ich das erste Mal in den Bundestag gewählt wurde, gab es bei uns Saumagen, die Lieblingsspeise von Helmut Kohl. Aber, diese Tradition habe ich nicht lange durchgehalten.
Das Gespräch führten Ellen Hasenkamp und Tobias Peter.
Viele Ämter – und eine große Liebe
Aufstieg Olaf Scholz war auf das Amt als Bundeskanzler außergewöhnlich gut vorbereitet. Er war in seiner Karriere Erster Bürgermeister von Hamburg, Bundesarbeitsminister und Finanzminister. Nach dem überraschenden Sieg der SPD bei der Wahl 2021 wurde er Kanzler.
Koalition Drei Jahre lang hat Scholz mit einer Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP regiert, die am Streit über den Haushalt scheiterte. Scholz entließ Finanzminister Christian Lindner (FDP). Bis zur vorgezogenen Bundestagswahl ist er Chef einer rot-grünen Minderheitsregierung.
Privates Der heute 66-Jährige hat früher als Fachanwalt für Arbeitsrecht gearbeitet. Er ist seit 1998 mit der SPD-Politikerin Britta Ernst verheiratet, die unter anderem Bildungsministerin in Brandenburg war.