Überaltete Gesellschaft
Pleitegeier kreist über Japan
Japan erlebt eine Pleitewelle. Das liegt nicht nur am schwachen Yen, sondern auch an Herausforderungen, die man so ähnlich in Europa erwartet: Demografische Alterung und Schrumpfung.
Von Felix Lill
Der Pleitegeier kreist über Japan. So ließe sich ein Bericht betiteln, den Anfang des Jahres der Finanzdienstleister Tokyo Shoko Research veröffentlicht hat. Denn 2024 verzeichnete das ostasiatische Land im dritten Jahr in Folge steigende Zahlen von Unternehmen, die Insolvenz anmelden mussten. Gegenüber 2023 wurde ein Pleitezuwachs von 15,1 Prozent verzeichnet. Mit 10 006 Betriebe war es sogar der höchste Wert der letzten elf Jahre.
Seit Jahren ist die ökonomische Situation in dem ostasiatischen Land angespannt. Gewachsen ist die japanische Volkswirtschaft – die vor eineinhalb Jahrzehnten noch die zweitgrößte der Welt war, mittlerweile aber nur noch die viertgrößte ist – unterm Strich seit 30 Jahren nicht. Zuletzt klagten Betriebe über den schwachen Yen, steigende Inflation und magere Aussichten auf eine Verbesserung der Lage. In Japan, wo Ökonomen schon lange von „verlorenen Jahrzehnten“ sprechen, ist die Abwesenheit von Wachstum nichts Neues.
Billigkredite auf Nullzinsniveau halten marode Betriebe am Leben
Ein jüngeres Phänomen, das nun Sorgen macht, ist aber die zunehmende Zahl von betrieblichen Bankrotterklärungen. Denn bisher fiel Japan auch dadurch auf, dass sich selbst solche Unternehmen, die kaum innovativ sind, noch am Leben hielten, unter anderem weil sie sich durch Billigkredite nahe Nullzinsniveau stets refinanzieren konnten. Schließlich hatte Japans Zentralbank seit der Jahrtausendwende eine Nullzinspolitik geführt, um die Volkswirtschaft anzukurbeln.
Im vergangenen Jahrzehnt wurde diese sehr lockere Geldpolitik noch durch intensive Staatsanleihekäufe verstärkt, womit sich der Staat weiter verschulden und investieren konnte. 2024 aber beschloss die Bank of Japan schließlich eine Abkehr von dieser Politik. Obwohl der Leitzins von derzeit 0,1 bis 0,25 Prozent immer noch niedrig ist, dient die leichte Erhöhung als Signal: Die Zeit der Nullzinsen geht vorbei. Kredite werden wieder teurer, zunächst marginal. Doch die Richtung für die nächsten Jahre scheint klar.
Zombie-Betriebe sind nicht pleite, florieren aber nicht
Eine weitere Sache, die zuletzt auslief, sind im Zuge der Pandemie erlassene Coronahilfen. Gerade kleineren Betrieben haben sie als wichtige Überlebenshilfe gedient. So zeigt sich in den Statistiken von Tokyo Shoko Research, dass fast alle der im letzten Jahr pleitegegangenen Unternehmen Klein- und Mittelbetriebe sind, also je nach Branche weniger als 100 oder 300 Mitarbeitende haben und deren Gesellschaftskapital 50, 100 oder 300 Millionen Yen (1,86 Millionen Euro) nicht übersteigt.
Betriebe, die schon mit eher kleinen politischen oder ökonomischen Veränderungen zu verschwinden drohen, werden oft Zombie-Unternehmen genannt, weil sie zwar nicht tot sind, aber auch nicht gerade florieren. Schätzungen der Teikoku Databank zeigen, dass Japans jahrzehntelange Nullzinspolitik den Anteil von Zombie-Betrieben auf 17 Prozent gesteigert hat. Marktradikale Stimmen weinen dem Verschwinden solcher Betriebe kein Auge nach. Ihr Argument: Diese Betriebe innovieren nicht, binden aber Ressourcen.
Dabei ist unklar, inwieweit es sich bei den seit Jahren verschwindenden Unternehmen wirklich um Zombies handelt. Denn eine weitere Herausforderung, über die diverse Unternehmen klagen, die nicht vor allem für den Exportmarkt produzieren, ist der schwache Yen. Nicht zuletzt wegen der sehr lockeren Geldpolitik und des niedrigen Leitzinses hat Japans Währung zuletzt ihren niedrigsten Außenwert der vergangenen 37 Jahre erreicht. Das macht zu importierende Komponenten teurer und sorgt für Inflation.
Kleinere Betriebe suchen verzweifelt nach Arbeitskräften
Ein weiterer Faktor aber hat weder mit dem Leitzins noch mit den Nachwehen von Covid-19 zu tun, legt sich aber seit nunmehr Jahrzehnten wie ein Schatten über die ökonomischen Aussichten Japans: Der demografische Wandel. In Japans alternder Gesellschaft schrumpft die Arbeitsbevölkerung bereits den 1990er Jahren, die Gesamtbevölkerung seit den Nullerjahren. Mit einer abnehmenden Zahl von Produzenten und Konsumentinnen wird weiteres Wachstum zusehends schwierig.
Gerade kleinere Betriebe, die sich eher am japanischen Inlandsmarkt orientieren, stehen also nicht nur vorm Problem, dass sich ihr Absatzmarkt Jahr für Jahr verkleinert. Sie suchen auch zusehends vergebens nach Arbeitskräften. Wie groß der Personalmangel in Japan ist, sieht man im ganzen Land: Cafés und Restaurants werben auf ihren Tischen mit Jobangeboten, Angestellte anderer Dienstleister haben Bewerbungsaufrufe in der Signatur ihrer Emails.
Japan reagiert mit Lockerung der strengen Migrationspolitik
Landesweit gibt es derzeit 1,25 Stellenangebote pro Person auf dem Arbeitsmarkt. Außerhalb der Metropolen ist der Personalmangel deutlich größer. So zeigt der jüngste Bericht von Tokyo Shoko Research auch dies: 289 Betriebe mussten ihre Aktivitäten im letzten Jahr beenden, weil sie kein Personal mehr fanden – fast eine Verdopplung gegenüber dem Vorjahr. Auch die Zahl der Betriebe, wo der Vorstand mit seinem Rentenantritt keine Nachfolge fand, hat mit 462 Fällen einen Rekordwert erreicht.
Die alternde Gesellschaft ist auch in europäischen Ländern eine wachsende Herausforderung. In Japan reagiert die Regierung mittlerweile mit einer Lockerung der bisher sehr strengen Migrationspolitik. So sollen insbesondere in den zwei Sektoren, wo besonders viele Betriebe pleitegegangen sind, Industrie und Dienstleistungen, verstärkt Fachkräfte angeworben werden. Die Effekte davon müssen sich aber erst noch zeigen.