Psychische Gewalt bringt Kinder in Not
Seit 2004 wird am 30. April zum „Tag der gewaltfreien Erziehung“ aufgerufen, der an das Recht von Kindern auf Erziehung ohne Gewalt erinnert. Körperliche Züchtigung ist heute nicht mehr üblich. Aber Gewalt hat viele Gesichter und für emotionale Formen gibt es wenig Bewusstsein.

© Romolo Tavani - stock.adobe.com
Wenn hochstrittige Eltern nach einer Trennung ihr Kind in Loyalitätskonflikte bringen, ist das eine Form von psychischer Gewalt. Genauso kommen Kinder in große Not, wenn sie häusliche Gewalt miterleben müssen. Foto: Adobe Stock/Romolo Tavani
Von Nicola Scharpf
Backnang. „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Mit diesen Worten in Paragraf 1631 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) ist das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung seit Ende 2000 festgeschrieben. Vier Jahre später etablierte der Kinderschutzbund den „Tag der gewaltfreien Erziehung“. Seitdem erinnert der 30. April an dieses Kinderrecht und appelliert an die Verantwortung der gesamten Gesellschaft für ein gewaltfreies Aufwachsen der Kinder. Doch wie ist es um die praktische Umsetzung des Rechts bestellt? Hat das Recht auf gewaltfreie Erziehung eher symbolischen Charakter? Schließlich spielt sich viel elterliches Fehlverhalten im Verborgenen, im geschlossenen System Familie ab und bleibt damit ungeahndet. Ein Kind zu verprügeln, war früher üblich. Heute ist diese Form der Gewalt in unserem Kulturkreis unvorstellbar und strafbar. Auch die Einstellung zu Ohrfeigen oder zum Klaps auf den Po hat sich dahingehend gewandelt, dass diese Arten der Strafe gesellschaftlich als nicht angebracht betrachtet werden. Das Festschreiben von Kinderrechten im BGB hat also die Reduktion von körperlichen Strafen bewirkt.
Emotionale Gewalt gegen Kinder hat zugenommen
Aber Gewalt gegen Kinder hat viele Gesichter, sie ist ein „weites Feld“ wie Susanne Grießhaber-Stepan sagt. Die Diplom-Sozialpädagogin leitet die Beratungsstelle für Familien und Jugendliche in Backnang, die beim Kreisjugendamt angesiedelt ist. Sie und ihre Kollegin Jacqueline Gerhardt vom Kinderkrisendienst, der Kinder nach Fällen von häuslicher Gewalt besonders in den Blick nimmt, registrieren, dass emotionale Gewalt gegen Kinder in allen Ausprägungen zugenommen hat, und belegen das auch mit Zahlen aus Erhebungen des Universitätsklinikums Ulm. „Emotionale Vernachlässigung ist nicht greifbar“, schildert Artur Urschel von der Familienberatung des Backnanger Vereins Kinder- und Jugendhilfe. Schlagen sei ein Tun und Tun könne man auch lassen. Emotionale Vernachlässigung lasse sich nicht an Taten erkennen. Subtile Abwertungen beispielsweise wisse ein Kind nicht einzuordnen, sagt Grießhaber-Stepan. Demütigungen wie „Du machst alles falsch“ oder „Aus dir wird nie was“ und Drohungen wie „Gleich setzt es was“, dauerhaftes Anschweigen oder Ignorieren sowie das Isolieren zu Hause, übertriebene Anforderungen stellen und extremen Leistungsdruck aufbauen: All das sind Formen psychischer Gewalt. Auch „hochstrittige Eltern nach Trennung“, so Gerhardt, würden ihre Kinder in Loyalitätskonflikte bringen, indem sie das jeweils andere Elternteil entwürdigen und herabsetzen. „Das ist psychische Gewalt, die das Kind in eine permanente Überforderungssituation versetzt. Es kann so weit gehen, dass das Kindeswohl gefährdet ist. Die Kinder werden in große Not gebracht.“ Das Miterleben häuslicher Gewalt sei ebenfalls eine Form psychischer Gewalt, weil dem Bedürfnis des Kindes nach Sicherheit nicht nachgekommen werden könne.
Übergriffe entstehen aus Überforderung
Übergriffe entstehen aus elterlicher Überforderung, aus Not und wenn eigene Grenzen überschritten würden, so Urschel, und weil sie sich selbst nicht anders regulieren könnten, so Grießhaber-Stepan. Dabei seien die Kinder abhängig davon, dass Eltern sie in ihren Emotionen regulieren. Grießhaber-Stepan: „Das eigene Erlebte hat einen starken Einfluss auf das eigene Erziehungsverhalten und wie man Konflikte löst. Kinder lernen den Umgang mit Konflikten von ihren Eltern.“ Oft sei kein elterliches Bewusstsein dafür vorhanden, dass es sich bei Beschimpfungen um Gewalt handle – die dazu führen kann, dass sich Kinder wertlos, ängstlich, verunsichert fühlen – und dass man miteinander Konflikte austragen könne, ohne sich abzuwerten.
Gewalt schadet nicht nur den Kindern, sondern auch den Eltern. Sie fühlten sich als Versager, würden sich schämen, schildert Urschel. Ein erster Schritt zur Besserung sei, dass ein Bewusstsein für die Gewalt entsteht. Grießhaber-Stepan erklärt: „Es ist für Menschen, die Gewalt gegen ihre Kinder anwenden, nicht schön, weil sie merken, dass das Verhalten nicht dem Leben dient.“ Der zweite Schritt sei die Bereitschaft zum Lernen. Das sei mitunter mühsam, gehe es doch darum, entwickelte Verhaltensmuster zu ändern, was oft in therapeutische Arbeit münde.
Selbstreflexion ist der Anfang
Gewaltfreie Erziehung betrachten die hiesigen Fachleute nicht als Vision, sondern als Idealzustand und gesellschaftliche Richtschnur. „Gewaltfreie Erziehung ist möglich und wird praktiziert“, sagt Grießhaber-Stepan. „Wir sind aber eine Gesellschaft mit hohen Ansprüchen. Alle wollen optimale Eltern sein.“ Sie findet wichtig, dass Eltern nicht sämtliche Stolpersteine negieren, sondern sich bei Ausrutschern und Fehlverhalten entschuldigen, selbst reflektieren und Strategien für einen besseren Umgang entwickeln. „Sich frei zu machen von Gewalt heißt, Bedürfnisse zu verstehen und in einen guten Kontakt miteinander zu kommen. Gewalt hat immer was mit Macht zu tun.“ Der Verzicht auf Gewalt in der Erziehung bedeute aber nicht, dass alles egal sei. Vielmehr geht es darum, andere Ideen und Formen der Begrenzung zu nutzen, die Kinder einzubeziehen und ihnen Verantwortung zu überlassen.
Beratungsangebote und Kurse können Hilfestellung geben – beispielsweise Seminare in gewaltfreier Kommunikation nach Rosenberger oder Weiterbildungsangebote wie „Starke Eltern – starke Kinder“, das der Kinderschutzbund entwickelt hat, um die Erziehungsfähigkeit von Eltern zu stärken und den Kinderrechten in der Familie Geltung zu verschaffen. In Backnang bietet der Verein Kinder- und Jugendhilfe diesen Kurs seit 14 Jahren an. Sozialpädagogin Susanne Lehmann, die diesen und weitere Elternkurse und Gruppenangebote des Vereins zusammen mit Artur Urschel leitet, geht es darum, andere Wege in der Erziehung anzuleiten. Sie betrachtet die Kurse zwar nicht als Allzweckmittel, aber als Möglichkeit, Eltern aufzurütteln und sich mit ganz praktischen Fragen zu beschäftigen: Was mache ich, wenn mein Kind nicht ins Bett gehen will? Mein Kind schlägt mich, was soll ich tun? Was will ich überhaupt, was ist das Ziel der Erziehung? Was soll für mich als Elternteil, das dem Kind körperlich, finanziell und psychologisch überlegen ist, dabei herausspringen, wenn ich Gewalt anwende? Wenn ich Erfahrung mit gewaltvoller Erziehung gemacht habe, wie ging es mir dabei?
Kontakt Die Beratungsstelle für Familien und Jugendliche, Am Obstmarkt 7, in Backnang, erreicht man telefonisch unter 07191/895-4039. Die Erziehungshilfe des Vereins Kinder- und Jugendhilfe ist erreichbar unter 07191/3419-119 oder -130.