Psychosomatik bringt Jugendliche zurück in den Alltag
Um Gruppenaktivitäten zu erleichtern, fördert die Eva-Mayr-Stihl-Stiftung einen Van für die Kinderklinik im Rems-Murr-Klinikum Winnenden.
Winnenden. Angst vor Schulversagen, soziale Phobien, Magersucht, Waschzwang, Depressionen: Mit solchen Erkrankungen kämpfen zunehmend bereits 12- bis 18-Jährige, und meist verstecken sich diese psychischen Leiden hinter ganz anderen Symptomen. Um das Problem an der Wurzel zu packen und den betroffenen Familien zu helfen, kümmert sich die Psychosomatik für Kinder und Jugendliche im Rems-Murr-Klinikum Winnenden gleichermaßen um die Heilung von Körper und Seele. Oberstes Ziel ist es, den jungen Patienten wieder eine stabile Perspektive im Alltag zu bieten. Deshalb ist es wichtig, dass sie während der mehrwöchigen stationären Therapie in der Klinik so oft wie möglich den normalen Alltag draußen erleben. Das können sie künftig in einem Elektrovan, dessen Anschaffung die Waiblinger Eva-Mayr-Stihl-Stiftung mit 48.000 Euro gefördert hat.
Patienten wollen etwas in der Gruppe erleben und den Alltag ausprobieren
Sechs stationäre Therapieplätze sind in der Winnender Kinderpsychosomatik verfügbar, jeweils zwei bis drei Pflegedienstmitarbeiter betreuen die Jugendlichen unterwegs. Die Rechnung geht auf – in jeder Hinsicht. „Wie jeder gesunde junge Mensch möchten auch unsere Patientinnen und Patienten etwas in der Gruppe erleben und Alltag ausprobieren: Museum und Kino besuchen, im Ebnisee baden, einkaufen im Supermarkt oder Bücher in der Bibliothek leihen.
Sie sind ja nicht bettlägerig, sondern auf den Beinen, besuchen unsere Klinikschule, kochen zusammen“, sagt Professor Ralf Rauch, Chefarzt der Kinderklinik. Worum geht es bei diesem speziellen diagnostischen und therapeutischen Angebot im Landkreis? Ralf Rauch, der die Kinderpsychosomatik 2016 im damals gerade erst zwei Jahre alten Winnender Klinikum aufgebaut hat, erläutert: „Wir nutzen hier unsere Chance, Kinder und Jugendliche mit teils vielfältigen körperlichen, also somatischen Auffälligkeiten und den zugrunde liegenden psychiatrischen Erkrankungen unter einem Dach diagnostisch und therapeutisch zu versorgen.“ Der Chefarzt nennt ein Beispiel: „Angenommen, ein Junge kommt zu uns, weil er dauernd Kopf- oder Bauchweh hat und deshalb oft in der Schule fehlt. Dann können wir im Klinikum mithilfe der Kollegen in den anderen Fachabteilungen abklären, was im Kopf oder im Bauch los ist und behandelt werden muss. Wenn rauskommt, es ist keine Zöliakie und keine chronische Magen-/Darmentzündung, dann wissen wir, dass das Bauchweh andere Ursachen hat. Panik vor Klassenarbeiten oder schlechten Noten, Angst vor Mitschülern oder allgemein davor, sich in Gruppen zurechtzufinden.“ Solche Ängste, die sich auf körperlicher Ebene zeigen, gehören zu den häufigsten Erkrankungen in der Kinderpsychosomatik; ebenso wie Essstörungen, also zum Beispiel Magersucht oder Ess-/Brechsucht.
„Dahinter stecken harte Schicksale und Probleme, deren Geschichte sich oft über Generationen hinweg zieht“, so Rauch, der häufig beobachtet, dass übersteigerte Leistungsansprüche die Familien-DNA hartnäckig prägen. „Oft verstehen die Eltern nicht oder wollen nicht verstehen, dass ihr Kind schwerwiegende psychische Probleme hat.“ Gerade Magersucht (Anorexie) werde oft
als Lifestyle-Thema verharmlost. „Aber das sind nicht einfach nur zu dünne Jugendliche. Studien zeigen, dass Anorexie sich tödlicher auswirkt als Leukämie, und da würde ja auch keiner bestreiten, dass es eine lebensbedrohliche Krankheit ist.“ Als Folge einer solchen Unterernährung fallen Haare aus, die Menstruationsblutung bei Mädchen bleibt aus, das Herz kommt aus dem Takt. Sogar das Hirn kann im Extremfall schrumpfen.
Auf zehn Mädchen kommt in der Kinderpsychosomatik ein Junge, weil Jungs sich meist noch weniger trauen, über ihre Probleme zu sprechen. Die Dunkelziffer ist bei beiden Geschlechtern hoch, weshalb das Team im Rems-Murr-Klinikum engen Kontakt zu den niedergelassenen Kinderärzten hält. „Wir klären auf, wir klären ab und wollen so der Krankheit möglichst schnell auf die Spur kommen. Und zwar bevor die Betroffenen jahrelange Odysseen durchmachen müssen, weil niemand ihre Beschwerden ernst nimmt oder keiner die psychische Grunderkrankung dahinter entdeckt.“
Zwölf Unterrichtsstunden in den Hauptfächern stehen im Wochenplan
Die Therapie ist aufwendig, langwierig und erfolgreich. Meist bleiben die 12- bis 18-jährigen Patienten um die 100 Tage im Klinikum, bekommen neben der medizinischen Behandlung auch Psycho-, Physio-, Musik-, Kunst-, Theater- oder Hippotherapie. Außerdem gehen sie in die Klinikschule: Zwölf Unterrichtsstunden in den Hauptfächern stehen im Wochenplan. Das Niveau entspricht üblicherweise dem Gymnasium. Fördern und fordern, der Alltag werde nicht ausgeblendet, sondern geschützt geprobt, so Rauch: „Im Übergang von stationärer Therapie zur Entlassung üben wir gemeinsam den Schulweg und bilden ein Helfernetzwerk mit ambulanten Betreuern, Jugendhilfe und Schulen, um die Reintegration zu ermöglichen.“ pm
Belastungen Behandelt werden Kinder und Jugendliche mit Lebensbelastung und -beeinträchtigung im Alltag durch ihre psychosomatischen Beschwerden. Belastungen können beispielsweise eingeschränkter, unregelmäßiger Schulbesuch, Vernachlässigung alterstypischer Aufgaben und Funktionen oder Beeinträchtigung in der Teilhabe am sozialen Leben sein.
Schwerpunkte Grundsätzlich werden sämtliche Erkrankungen aus dem psychosomatischen Formenkreis behandelt mit den Behandlungsschwerpunkten der Essstörungen und der somatoformen Störungen:Störungen des Essverhaltens, psychogene Schmerzsyndrome, dissoziative und funktionelle Störungen, Angststörungen und Depression.
Vorgespräch Eine Zuweisung zur stationären Aufnahme erfolgt über den behandelnden Kinder-/ Hausarzt nach einem ambulanten Vorgespräch.
Informationen Weitere Informationen finden Interessierte im Internet unter: https://t1p.de/fawmq