Urteil im Fall Pelicot

Schlusspunkt einer unfassbaren Geschichte

Im Prozess gegen die Peiniger von Gisèle Pelicot hat das Gericht in Avignon alle Angeklagten für schuldig erklärt. Pelicots Ehemann erhielt die Maximalstrafe.

Gisèle Pelicot nach der Urteilsverkündung.

© dpa/Clement Mahoudeau

Gisèle Pelicot nach der Urteilsverkündung.

Von Stefan Brändle

Sogar der Staatschef musste hintanstehen, als Gisèle Pelicot im Gerichtsgebäude eintraf: Die französischen Livesender berichteten am Donnerstagmorgen nicht über den Präsidenten Emmanuel Macron, der zeitgleich auf dem Flughafen Dzaoudzi Pamandzi eintraf. Er besuchte das von einem Wirbelsturm versehrte Überseedepartement Mayotte, um die Schäden auf der Insel im Indischen Ozean in Augenschein zu nehmen und mit Opfern zu sprechen. Die TV-Branche wandte sich indes einem spektakuläreren Ereignis zu. Ein Kamerapulk folgte in der Provence-Metropole Avignon der unscheinbaren Frau, die nach grauenhaften Verbrechen, die ihr der eigene Gatte angetan hat, zu einer neuen feministischen Ikone wurd. In Begleitung eines Anwaltes betrat sie den Verhandlungssaal A.

An der historischen Befestigungsmauer der Stadt hatte sie ein Riesentransparent mit der schlichten Aufschrift „Merci, Gisèle“ begrüßt. Gleichlautende Rufe des Publikums folgten der 72-jährigen Rentnerin, die lächelnd Hände schüttelte. „Danke für Ihren Mut, danke für ihre Würde, danke, dass Sie Ihre Geschichte mit uns geteilt haben“, rief eine ältere Frau mit Blick auf die jahrelangen Vergewaltigungen durch den früheren Ehemann Dominique Pelicot und rund 70 seiner Kumpane.

Einige der Angeklagten bringen Gepäck für das Gefängnis mit

Die Angeklagten mussten sich ebenfalls einen Weg durch die Massen der Zaungäste bahnen – die einen mit offenem Gesicht, andere vermummt. Einige hatten eine Tasche oder einen Koffer dabei, da sie damit rechnen mussten, im Anschluss an die Urteilsverkündung ohne Verzug verhaftet zu werden. Vertreterinnen des Frauenverbandes „Les Amazones d’Avignon“ versuchten ihnen Orangen zuzustecken und spöttisch „Frohe Weihnachten“ zu wünschen. Die Polizei hinderte sie aber an dieser höhnischen Aktion.

Die fünf Richter gaben ihr Urteil im Anschluss an eine dreitägige Klausur bekannt. Entschieden hatten sie mittels geheimer Abstimmung. Der Hauptangeklagte Dominique Pelicot erhielt die Maximalstrafe von 20 Jahren Gefängnis. Der heute 72-jährige ehemalige Elektriker soll seine Frau in ihrem Haus in der Provence-Gemeinde Mazan jahrelang immer wieder betäubt haben, um sie dann via Internet mindestens 70 Männern zum sexuellen Missbrauch anzubieten.

„XXL-Perversling“

Pelicot war geständig. In seinem Schlusswort hatte er Reue bekundet und sich bei dem ihm einst angetrauten Opfer Gisèle entschuldigt. Zuvor hatte er – ohne Beweise dafür anführen zu können – erklärt, er sei als Achtjähriger selber vergewaltigt worden. Ob Dominique Pelicot gegen das Urteil Berufung einlegen wird, blieb vorerst offen. Der „XXL-Perversling“, wie ihn französische Medien nennen, wird sich auch noch in zwei anderen Fällen verantworten müssen. Dabei geht es um die Vergewaltigung einer Immobilienmaklerin und einen Sexualmord. An mindestens einem der fraglichen Tatorte wurden Pelicots DNA-Spuren gefunden.

Von den 50 übrigen Angeklagten wurde kein einziger freigesprochen. Sie erhielten Freiheitsstrafen von drei bis fünfzehn Jahren. Zwanzig Verurteilte kamen sogleich in Polizeigewahrsam. Sechs weitere verließen das Gericht in Freiheit, da sie ihre Strafe seit 2020 bereits verbüßt haben.

Das Gericht warf den am Ende verurteilten Männern vor, sie hätten Pelicots Einladung, sich über seine reglose Frau herzumachen, bereitwillig angenommen. Um eine Einwilligung hätten sie das Opfer nie ersucht. Deshalb handle es sich um einen klaren Akt der Gewalt.

Die Staatsanwaltschaft hatte höhere Strafen verlangt: meist drei bis vier Jahre mehr als die Richter für Recht erkannten. Feministinnen kritisierten die Urteile als zu mild. Einzelne Aktivistinnen sprachen von einer „Schande“. Einer der Angeklagten wurde beim Verlassen des Gerichtssaales attackiert.

Auch umgekehrt gab es unschöne Szenen, als ein Anwalt die Frauenrechtlerinnen als „hysterisch“ beschimpfte. Fast schien es, als sich ob sich die Aufwallung der Gefühle nach fast vier Monaten Prozess in gewalttätigen Aktionen Bahn brechen wollte.

Gisèle Pelicot erklärte vor zahllosen Kameras und Mikrofonen, sie respektiere die Urteile. Sie sagte, sie denke nach dieser „schweren Prüfung“ vorrangig an ihre Kinder und Enkelkinder – und dazu auch an die „nicht anerkannten Opfer“ anderer Vergewaltigungen. Sie dankte ihren Anwälten und dem wohlwollenden Publikum für die breite Unterstützung, aus der sie während der langen Zeit vor Gericht Kraft geschöpft habe.

Morbide sexuelle Fantasien

Die Verteidigerinnen drangen mit ihren Argumenten kaum durch. Die Anwältin Nadia El Bouroumi, die den Prozessverlauf auch über die sozialen Medien kommentiert hatte, behauptete nach dem Richterspruch, ihre beiden Klienten, als Mittäter verurteilt, seien selber „Opfer“ – Opfer von Dominique Pelicot. So wie er seine Gattin jahrzehntelang hintergangen und über sein wahres Ich getäuscht habe, so erfolgreich habe er seine Mitangeklagten gesteuert, um seine morbiden sexuellen Fantasien zu verwirklichen.

Das Hauptargument der Verteidigung lautete folgendermaßen: Die nächtlichen „Besucher“ der Pelicot-Villa hätten nur an einem Sexspiel mit einem ungleichen Ehepaar beizuwohnen geglaubt; sie hätten keinerlei Absicht zur Vergewaltigung gehabt oder ausgedrückt. Deshalb sei der Tatbestand nicht vollständig erfüllt.

Das Gericht sah es aber für erwiesen an, dass auch die Mittäter die Absicht gehegt hätten, die Frau zu vergewaltigen. Trotz der offensichtlichen Reglosigkeit Gisèle Pelicots hätten die Männer nicht von ihr abgelassen. Die Ausnützung von Wehrlosigkeit gilt nach französischem Recht als erschwerender Umstand. Die höchsten Haftstrafen erhielten jene Angeklagten, die mehrmals – bis zu sechsmal – die meist gefilmten Gewaltorgien den Pelicots aufgesucht hatten.

Die am Rande des Prozesses viel diskutierte Frage, ob dieser Verbrechensserie eine „Kultur der Vergewaltigung“ zugrunde lag, hatte das Gericht nicht zu beantworten. Es äußerte sich auch nicht nur Frage, ob es sich bei den Tätern um „normale Männer“ handele – oder um pathologische Kriminelle.

Nur Durchschnittsbürger?

Die Angeklagten gaben sich selbst als Durchschnittsbürger, die anfangs nur eine Pornoseite konsultiert hätten, bevor sie von Dominique Pelicot manipuliert worden seien. Einer sagte, er lebe so korrekt, dass er nicht einmal bei Rot über eine Fußgängerampel gehen würde. Dominique Pelicot habe ihn angelogen. Ein anderer Verurteilter kommt selber aus einer Familie voller Gewalt und entstammt einer inzestuösen Beziehung seiner Mutter zu deren Vater.

Die Staatsanwaltschaft hielt hingegen fest, dass nur zwei der Täter den Rückzug angetreten hätten, als sie in Pelicots Schlafzimmer eine bewegungslose Frau vorfanden. Und keiner von beiden habe je die Polizei davon in Kenntnis gesetzt.

„20 Jahre für alle“

Viele Feministinnen, die vor dem Gerichtsgebäude in Avignon seit Prozessbeginn im September demonstriert haben, sahen in diesem Verhalten einen Beleg dafür, dass es durchaus eine gemeinsame Absicht der Männer gegeben habe. Ein Transparent vor dem Gerichtsgebäude forderte deshalb die Höchststrafe: „20 Jahren für alle“.

Die Verurteilten nahmen die Urteile teils mit Kopfschütteln auf. Ihre Familienangehörigen protestieren in einem Nebensaal lauthals. Einige verließen das Gericht voller Wut. Die Polizei bezog Stellung, um eventuelle Ausschreitungen zu verhindern.

Gisèle Pelicot reagierte wie ihr Ex-Gatte. Beide blieben äußerlich nahezu reglos, als das Verdikt verlesen wurde.

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Erstellt:
19. Dezember 2024, 17:14 Uhr

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