Schockanruf von London nach Leonberg

Der Kopf einer Bande muss dreieinhalb Jahre in Haft. Die Gruppe hatte Senioren vorgegaukelt, sie müsse Verwandte aus einer Notlage retten.

Von Henning Maak

Stuttgart/Leonberg. - Einen eindrucksvollen Einblick in das System der Schockanrufe hat ein Prozess vor dem Landgericht Stuttgart gegeben, der jetzt zu Ende gegangen ist. Die 5. Große Strafkammer verurteilte einen 34-jährigen Mann wegen Beihilfe zu gewerblichem Bandenbetrug zu dreieinhalb Jahren Haft. Er hatte als so genannter Ausstattungslogistiker andere Bandenmitglieder, sogenannte Abholer, mit Wegwerfhandys und Bargeld ausgestattet. Der Angeklagte hatte ein umfangreiches Geständnis abgelegt und die Opfer um Verzeihung gebeten.

Kopf der Bande war nach den Erkenntnissen des Gerichts eine polnische Roma-Familie, die von London aus agierte, um Senioren „Geld und Schmuck abzuknöpfen, um damit ihren AMG-Mercedes und Gucci-Pullover zu finanzieren“, wie es Staatsanwalt Lars Jaklin in seinem Schlussplädoyer formulierte. Aus diesem engsten Familienkreis hätten sich die so genannten „Keiler“ rekrutiert, die ihre Opfer oft stundenlang am Telefon psychischem Druck aussetzten. Regelmäßig riefen mindestens zwei dieser „Keiler“ bei ihren potenziellen Opfern in Deutschland an, und gaukelten ihnen vor, ein naher Verwandter habe einen Verkehrsunfall verursacht, bei dem eine Person schwer verletzt worden sei. Nun drohe Untersuchungshaft, die nur durch eine Kaution abgewendet werden könne. Häufig habe sich einer der beiden Personen als Polizist oder Staatsanwalt ausgegeben. Nicht selten hätten die „Keiler“ anfangs 100 000 Euro verlangt. „Die Masche war hochprofessionell, teilweise wurde sogar ein fränkischer Dialekt am Telefon nachgeahmt“, erklärte der Vorsitzende Richter Volker Peterke.

Obwohl der Angeklagte als Logistiker auf der mittleren Ebene agiert habe, sei er nur eine Randfigur im gesamten Konstrukt gewesen. „Er wurde nicht in Ansätzen eingeweiht, der Bandenchef hat sich ihm gegenüber sogar unter einem falschen Namen ausgegeben“, führte Peterke weiter aus. Die Abholer, die zu den potenziellen Opfern dirigiert wurden, um dort die Wertgegenstände einzusammeln, seien von den Bandenchefs „wie Kanonenfutter“ behandelt worden. Das lasse sich daran festmachen, dass bei den hier angeklagten zwölf Fällen neun Abholer von der Polizei festgenommen worden seien.

Insgesamt viermal war der Angeklagte bei Frankfurt/Oder über die Grenze gegangen, um in vier Wochen im März und April vergangenen Jahres jeweils mehrere Abholer mit Bargeld und Handys auszustatten. Erstes Opfer der Bande war eine 80-jährige Frau aus Leonberg. Ihr wurde am Telefon vorgegaukelt, ihre Tochter habe einen Verkehrsunfall verursacht. Die Frau übergab dem Abholer 17 000 Euro und Schmuck als Kaution, der Mann konnte aber kurz darauf festgenommen werden. „Die Frau hat sogar den Ehering ihres verstorbenen Mannes weggegeben, der ihr einziges Erinnerungsstück war“, merkte Richter Peterke an.

Anschließend gab es noch fünf weitere Fälle in Bayern, je zwei in Hessen und Nordrhein-Westfalen und je einen in Hamburg und Niedersachsen. In Hanau scheiterte der Versuch an einem aufmerksamen Bankangestellten, der einen Senior auf einen möglichen Enkeltrick aufmerksam machte.

Im bayerischen Oberhaching gab eine 63 Jahre alte Frau vor Aufregung den falschen Code am Tresor ein, sodass sich dieser nicht mehr öffnen ließ. Als der Abholer versuchte, diesen abzutransportieren, blieb er damit im Treppenhaus stecken.

Besonders erfolgreich waren die Täter bei einem Senior in Bayern: Bei einem 86-Jährigen erbeuteten die Abholer gleich zweimal 30 000 Euro Bargeld – unter dem Vorwand, dass die erste Kaution nicht ausgereicht habe. Insgesamt bezifferte das Gericht den so genannten Bruttoschaden – die Summe der Werte, die die Opfer den Abholern übergaben – auf 242 000 Euro. Der Nettoschaden – das Geld, das nicht mehr wiederbeschafft werden konnte – belief sich auf 97 000 Euro.

Anders als in der Anklage bewertete das Gericht die Taten des Angeklagten lediglich als Beihilfe, da der 34-Jährige keine Tatherrschaft gehabt habe und auch kein eigenes wirtschaftliches Interesse am Erfolg. Richter Peterke hoffte, dass sich der Angeklagte von solchen Taten in Zukunft fernhält. „Machen Sie so einen Mist nie wieder“, gab er ihm als Ratschlag mit auf den Weg.

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Erstellt:
23. Dezember 2024, 22:04 Uhr
Aktualisiert:
24. Dezember 2024, 21:56 Uhr

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