„Spiegel“-Bestsellerautorin Silke Müller
Schulleiterin besorgt über Mobbing durch KI – „Plötzlich splitterfasernackt im Klassenchat“
Eltern und Lehrkräfte wissen: Kindheit ist nie konfliktfrei. Doch mit künstlicher Intelligenz bekommen Auseinandersetzungen eine neue Dimension. Eine Schulleiterin schildert ihre Beobachtungen und gibt konkrete Handlungstipps.

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Ein Streit, der auf dem Schulhof beginnt, wird oftmals in den sozialen Medien weitergeführt.
Von Beate Grünewald
Es ist eine Frage, die sich Eltern früher oder später stellen: Wann ist der richtige Zeitpunkt für ein eigenes Handy? Die meisten Mütter und Väter versuchen den Zeitpunkt so weit wie möglich hinauszuzögern. Andere fackeln nicht lange und schenken schon ein Handy in der Grundschule. Silke Müller hat dazu eine klare Meinung. Sie ist Schulleiterin einer Oberschule im Landkreis Oldenburg. Außerdem ist sie aktuell mit ihrem zweiten Buch auf Vortragsreise, unter anderem war sie in Leinfelden-Echterdingen. Wir hatten die Gelegenheit, sie dort zu interviewen.
Frau Müller, was ist das richtige Alter für das erste eigene Smartphone?
Ich bin überzeugt, dass ein Kind vor 14 Jahren kein eigenes Smartphone haben sollte. Nicht wegen des Gerätes, sondern wegen des oft unbeschränkten Zugang zu sozialen Netzwerken.
Was passiert in den sozialen Medien?
Wenn ein Kind Zugang zu sozialen Netzwerken hat, müssen Eltern damit rechnen, dass es auf unfassbar schwierige Inhalte – um es mal vorsichtig auszudrücken – treffen kann. Auf Brutalität, Pornografie, Tierquälerei, Verschwörungstheorien. Natürlich auch auf Fake News. Aber sie müssen auch damit rechnen, dass das Kind von pädokriminellen Menschen über Chats angesprochen wird.
Das klingt ziemlich düster. Ist das nicht übertrieben?
Grundsätzlich empfinden viele Eltern oder Erwachsene diese Botschaft als alarmistisch. Aber ich sage: Das kann wirklich jedes Kind treffen, und wir müssen hier aufmerksam sein. Je krasser ein Post, desto schneller verbreiten sich die Inhalte.
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Also am besten gar kein Handy?
Das Gerät gehört auf jeden Fall zur Kinder- und Jugendwelt dazu. Und es ist auch ein Stück Persönlichkeitsbildung und Kommunikation. Wir können nicht verhindern, dass Kinder auf wirklich furchterregende oder auch gefährdende Inhalte stoßen. Genauso wenig wie sich Gefahren im Straßenverkehr oder anderswo immer vermeiden lassen. Wir können Kinder aber stark machen und sie begleiten.
Wie kamen Sie als Schulleiterin zu dem Thema?
2016 war mein erster Auftritt zu diesem Thema, weil ich festgestellt habe, dass sich die Kinder in der Schule durch die Nutzung von Instagram – mittlerweile ja auch Tiktok oder Snapchat – total verändern. Dass Konflikte anders werden, dass der Belastungsgrad von Kindern anders wird, dass Kinder trauriger, einsamer, depressiver werden. Und das macht mir große Sorge.
Was erleben Sie noch?
Es gibt tatsächlich keinen Konflikt mehr, der nicht mindestens medial begleitet ist. Ein Streit beginnt auf dem Schulhof und wird dann bei WhatsApp oder Snapchat weitergeführt. Zum Beispiel werden despektierliche Fotos angefertigt – trotz Handyverbots an der Schule – und weitergeleitet in Gruppen wie den Klassenchat.
Haben Sie ein Beispiel?
Ein aktueller Trend sind Fotos, die mit sogenannten Nudifi-Apps angefertigt werden. Dabei wird eine bekleidete Person mittels KI in eine nackte verwandelt. Das sieht täuschend echt aus. So steht möglicherweise ein Kind mit Figurproblemen plötzlich splitterfasernackt auf einem Foto, das in Klassen-Gruppen versendet wird. Das ist für Kinder ganz schwer auszuhalten.
Welche Tipps haben Sie für Eltern?
Erstens: Kein Handy zur Schlafenszeit im Kinderzimmer. Da passieren meist die dunkelsten Dinge. Außerdem schlafen die Kinder zu wenig. Zweitens: Kein Handy ohne Mediennutzungsvertrag, in dem beispielsweise steht: „Am Freitag räumen wir gemeinsam deine Fotogalerie auf.“ Drittens: Sprechen Sie mit Ihren Kindern darüber, wer eine Vertrauensperson sein könnte, wenn zum Beispiel Eltern in der Pubertät nicht die ersten Ansprechpartner sind. Das kann die Oma sein oder der Fußballtrainer.
Wie viel Handyzeit ist vertretbar?
Eine Studie besagt, dass Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren im Schnitt 71,5 Stunden pro Woche online sind. Sicherlich nicht nur in sozialen Netzwerken, auch für die Schule. Trotzdem ist das viel zu viel. Kinder brauchen Begegnungen an der frischen Luft. Und sie brauchen normale Gespräche, in denen man miteinander lacht, streitet oder schweigt.
Sind Sie für Verbote oder für Vertrauen?
Es braucht beides: Verbote und Begleitung – und dafür braucht es die Eltern genauso wie Schule und Politik, ein Schulterschluss also aus allen Bereichen der Gesellschaft.
Was halten Sie von Kinderhandy-Überwachungsapps wie Family-Link?
Das ist wichtig und richtig. Aber Eltern sollten sich nicht allein darauf verlassen. Es gibt Anleitungen im Internet, wie man den Google Family Link oder die Bildschirmsperre umgehen kann.
Schon manche Grundschulkinder haben Smartphones. Was halten Sie davon?
Eltern sollten nicht fahrlässig handeln und schon in der Grundschulzeit ein Smartphone schenken. Wenn sie ihr Kind erreichen wollen, sollten sie ihm ein Handy kaufen, mit dem man telefonieren kann und nicht mehr.
Bei all den Nachteilen – warum halten Sie ein Smartphone für Kinder ab 14 für vertretbar?
14 ist ein Alter, in dem Kinder in der neunten oder zehnten Klasse sind. Ich nehme wahr, dass sie dann schon fähig sind, gut und schlecht zu unterscheiden, kritisch und reflektiert zu kommunizieren, resilient sind und anderen helfen.
Wie erkennen Eltern, dass ihr Kind im Internet schwierigen Inhalten ausgesetzt ist?
Wenn sie beobachten, dass das Kind sich verändert, es ruhiger wird, depressiv wirkt, nicht mehr mit ihnen spricht, könnte das tatsächlich an Vorfällen im Netz liegen. Dann müssen Väter und Mütter behutsam sein und mit ihrem Kind sprechen. Wenn es sich nicht traut, was war direkt ins Gesicht zu sagen, ein kleiner Tipp: Bitten Sie Ihr Kind, Ihnen eine Sprachnachricht zu schicken.
Haben Sie noch einen ultimativen Rat?
Eltern, nehmt euer Kind in den Arm, selbst wenn mal Mist passiert ist. Kinder brauchen ganz viel Körperkontakt und Umarmung. Nicht durch Likes bei Instagram und Co., sondern durch echte Berührungen. Liebe eben, und das vergessen wir manchmal.
Tipps für Eltern zur Handynutzung ihrer Kinder
- Erstens: Kein Handy zur Schlafenszeit im Kinderzimmer.
- Zweitens: Kein Handy ohne Mediennutzungsvertrag
- Drittens: Sprechen Sie mit Ihren Kindern darüber, wer eine Vertrauensperson sein könnte.
Schulleiterin und Bestsellerautorin
ExpertinSilke Müller (Jahrgang 1980) ist Schulleiterin im niedersächsischen Landkreis Oldenburg und hält europaweit Vorträge über die Einflüsse und Gefahren von sozialen Netzwerken. Vor drei Jahren wurde sie zur ersten Niedersächsischen Botschafterin für Digitalisierung ernannt.
AutorinIm Mai 2023 erschien ihr erster Bestseller „Wir verlieren unsere Kinder“, in dem es um soziale Netzwerke und die Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche geht. Im Mai 2024 veröffentlichte Silke Müller ihr zweites Buch: „Wer schützt unsere Kinder? Wie künstliche Intelligenz Familien und Schulen verändert und was jetzt zu tun ist“.