Britisches Gesundheitssystem

Schwerkranke auf britischen Klinikfluren

Die Notaufnahmen laufen über, die Rettungsdienste stecken fest. Patienten müssen oft tagelang in Korridoren auf Aluminium-Bahren ausharren, während der nationale Telefon-Notruf keine schnelle Hilfe mehr verspricht.

Krankenwagen vor dem Royal London Krankenhaus

© Dominic Lipinski

Krankenwagen vor dem Royal London Krankenhaus

Von Peter Nonnenmacher

Neuen Katastrophenalarm haben in den vergangenen Tagen zwei Dutzend britische Krankenhaus-Verwaltungen geschlagen. Die Notaufnahmen einer immer größeren Zahl von Kliniken werden nicht mehr fertig mit dem Patienten-Andrang zur Zeit.

Letzten Angaben des Gesundheitswesens zufolge mussten allein im vorigen Monat in England 54 000 Patienten länger als zwölf Stunden in Klinik-Korridoren auf Trolleys und in Rollstühlen auf Zulassung zu einer Station warten. In 20 000 Fällen dauerte es über eine Stunde, bis ein Ambulanz-Team sie vom Wagen in die Notaufnahme bringen konnte, weil dort kein Platz vorhanden war.

Stunden- oder sogar tagelang dauert es mittlerweile oft, bis Patienten überhaupt einen Rettungswagen zu sehen bekommen. Weil so viele Wagen vor den Krankenhaus-Zugängen in Warteschlangen festgehalten werden, haben deren Teams im Dezember 100 000 Notrufe verpasst.

Patienten, die daheim einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall erleiden, kommen so manchmal nicht mehr rechtzeitig in ärztliche Behandlung. Befürchtet wird, dass im Laufe des letzten Jahres insgesamt 16 000 Patienten starben wegen der Engpässe bei der Notaufnahme im Land.

„Schon so schlimm wie auf dem Höhepunkt der Covid-Krise“ sei die Situation zur Zeit, klagen Ärzte und Pfleger, von denen viele wieder Zwölf-Stunden-Schichten absolvieren.

„Notfall-Stationen, die für zehn Patienten gerüstet sind, müssen 15 bis 40 Personen aufnehmen“, erklärt Patricia Marquis, die Chefin des Royal College of Nurses, des Verbands der Pfleger und Pflegerinnen. Was früher nur „ganz, ganz selten einmal“ geschehen sei, nämlich das Abstellen von Patienten auf Klinik-Fluren, sei inzwischen im ganzen Königreich „völlig normal“.

Tatsächlich verbringen viele Patienten oft mehrere Tage auf Aluminium-Bahren oder im Rollstuhl auf Korridoren. Im Royal Liverpool University Hospital lagen einzelne Patienten 90 Stunden lang auf Pflegewagen in Klinikgängen, bevor sie in ein Bett auf einer Station zugeteilt bekamen. Im Nord-Londoner Whittingdon Hospital lag zuletzt sogar eine ältere Patientin auf dem Flur im Sterben – und hauchte dort auch ihr Leben aus.

Unmenschliche Zustände

„Es ist so unmenschlich, wirklich grässlich“, fand eine Pflegerin der dortigen Klinik. In den letzten Tagen hat man vielerorts fieberhaft damit begonnen, Stromleitungen und Sauerstoff-Anschlüsse in Korridorwände einzubauen, um Leute auch dort notdürftig behandeln zu können.

Das Whittingdon hat als erste Klinik sogar damit angefangen, Pfleger und Pflegerinnen für einen „Dienst in den Gängen“ auszubilden. In Anzeigen wird jetzt Personal speziell für „Korridor-Pflege“ gesucht.

Eine solche Maßnahme sei natürlich nur „eine Bestätigung des totalen Versagens des Gesundheitsdienstes“, urteilt Adrian Boyle, der Präsident des Verbandes der Mitarbeiter der Notfall-Dienste. „Wir erleben eine echte nationale Krise an der Notaufnahme-Front.“

Dringend benötigt werden nach Boyles Ansicht 10 000 Extra-Betten. Der Londoner Sunday Times zufolge sind nach 2010 in der Austeritäts-Periode der Konservativen in England 6000 Betten abgebaut worden – während die Bevölkerung in derselben Zeit um fünf Millionen wuchs.

Krise bei der sozialen Fürsorge

Grund für die akute Notlage ist neben dem Bettenmangel freilich auch die anhaltende Krise im Bereich der sozialen Fürsorge für Ältere und Bedürftige: Zehntausende von Patienten stecken in den Kliniken fest, weil sie zuhause keine Hilfe erwarten können vom Staat.

Außer der dringenden Reform dieser Fürsorge fordern Experten eine neue Werbe-Kampagne, mit der in den Ruhestand getretene Pfleger und Pflegerinnen für eine Rückkehr in die Kliniken gewonnen werden sollen, damit der Personalbestand dort schnell aufgestockt werden kann.

Während der aktuelle Notstand sich verschlimmert hat durch die weit verbreiteten Grippe-Viren, rückläufiges Interesse an Impfungen im Vorjahr und die extreme Kälte dieses Winters auf den Britischen Inseln, verweisen Ärzte und Pfleger nachdrücklich auf die chronischen Probleme des NHS.

„Wir wissen doch, dass uns ein Grippe-Ausbruch jeden Winter bevorsteht“, meint Philip Banfield vom Britischen Ärzteverband. „Und doch lassen wir zu, dass es unser Gesundheitswesen völlig lahmlegt. Das darf nicht sein. Das darf nicht die Norm werden bei uns.“

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Erstellt:
13. Januar 2025, 15:34 Uhr

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