Sinnloser, Hoffnung machender Angriff
Militärisch ergibt die ukrainische Offensive in Russland keinen Sinn. Aber sie stärkt die Moral auch im Westen.
Von Eidos Import
Die Frage ist berechtigt. Und sie ist ebenso drängend wie sie schwierig zu beantworten ist: Was in Herrgottsnamen wollen die Ukrainer in der Region Kursk, in Russland? Niemand im Westen sitzt im Hirn von Olexsandr Syrskyj – und offenbar hat der Generalstabschef der ukrainischen Streitkräfte auch niemanden um Rat gefragt oder sich gar beraten lassen: In den Hauptstädten von Washington bis Berlin und Warschau gab man sich zumindest überrascht, als am 6. August in der Morgendämmerung ukrainische Panzer über die Grenze nach Russland vorstießen.
So sind zunächst die Fakten aufzuzählen: Zwei starke Brigaden haben sich auf der ukrainische Seite festungsartig verschanzt – über sie können sich die nach Russland vorgedrungenen Verbände jederzeit schnell und sicher in die Heimat zurückziehen. In der Region um Kursk hat keine der ukrainischen Brigaden auch nur damit begonnen, sich einzugraben oder Nachschubdepots anzulegen. Was sie tun würden, wenn sie planten, dauerhaft zu bleiben. Insofern deutet die militärische Situation auf einen Nadelstich hin: Die Spitze wird herausgezogen, wenn die russische Armee zu einem ernst zu nehmenden Gegenangriff antritt.
Das aber tut sie nicht: Während sich die Ströme Zehntausender, wenn nicht Hunderttausender russischer Flüchtlinge in Echtzeit auf der Staukarte des russischen Anbieters Yandex verfolgen lassen, setzt der russische Generalstab der Offensive nichts entgegen – oder kann ihr nichts entgegensetzen: Der seit dem 24. Februar 2014 andauernde Angriffskrieg im Nachbarland dürfte mittlerweile konservativ geschätzt etwa einer halben Millionen Russen und Söldnern das Leben gekostet haben.
Das alles schwächt den russischen Diktator Wladimir Putin in der eigenen Bevölkerung. Das alles stärkt die Moral der an den Frontabschnitten im Süden eingesetzten, zunehmend demoralisierten Truppen.
Das wichtigste Zeichen aber sendet General Syrskyj in den Westen: Dessen Staats- und Regierungschefs haben den Ukraine erst vor kurzem erlaubt, die von ihnen gelieferten Waffen auch in Russland einzusetzen. Sie haben dem leidenden Land so quasi erlaubt, sich mit beiden Händen zu wehren und nicht unentwegt eine Hand auf dem Rücken gebunden zu lassen.
Das zeigt Wirkung: Die jetzt von russischem Boden aus vorgetragenen Drohnenangriffe auf das russische 14. Jagdgeschwader 332. Kampfhubschrauberregiment auf dem Fliegerhorst Kursk haben dazu geführt, dass russische Jagdbomber, Abfangjäger und Kampfhelikopter zurück ins Hinterland verlegt wurden. Und sie jetzt längere Wege fliegen müssen, um ukrainische Kinderkrankenhäuser zu bombardieren.
Zusammen mit anstehenden westlichen Lieferung von Luftabwehrwaffen ist das ein hoffnungsvolles Zeichen für alle: Für den Westen, der sich, auch wenn es viele dort nicht wahrhaben wollen, längst im Krieg mit Russland befindet, wie Cyber- und Sabotageangriffe schmerzlich klar machen. Für die Menschen in der Ukraine, die mit ihrem Leben und Blut den Preis auch dafür zahlen, dass Politiker wie Sahra Wagenknecht ihre zu SED-Zeiten eingetrichterte Russland-Liebe in einer Demokratie überhaupt dumm und dreist hinausposaunen können. Für eine ähnlich kritische Meinung am russischen System hätte sie längst das Schicksal des Regimekritikers Alexei Nawalny ereilt: Folterknast, mutmaßlicher Mord.
Was immer Syrskyj bewogen hat, nach Russland vorzustoßen: der Angriff macht Menschen Hoffnung. Zeigt, dass Russland verwundbar ist. Militärisch ergibt die Offensive wenig bis gar keinen Sinn. Aber das sollte es vielleicht auch gar nicht.