Debatte über Sicherheit in Psychiatrien nach Ausbruch

dpa/lsw Stuttgart. Knapp zwei Wochen nach der Flucht von vier Männern aus einer geschlossenen Psychiatrie wird über das Thema Sicherheit debattiert. Doch auch über die Patienten macht man sich Gedanken. Nicht alle scheinen zu Recht dort zu sein.

Ein Gebäude der Klinik am Weissenhof in Weinsberg. Foto: Bernd Weißbrod/dpa/archivbild

Ein Gebäude der Klinik am Weissenhof in Weinsberg. Foto: Bernd Weißbrod/dpa/archivbild

Nach dem Ausbruch von vier Männern aus dem geschlossenen Teil einer Psychiatrie vor knapp zwei Wochen verlangt die SPD-Fraktion, die landesweit fünf Maßregelvollzugsanstalten zu überprüfen. „Die vier Ausbrecher haben ihre Flucht mutmaßlich mit einem Mobiltelefon geplant und das Gebäude über ein nicht vergittertes Flurfenster verlassen“, sagte Strafvollzugsexperte Jonas Weber in Stuttgart. Besorgniserregend sei, dass Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) keinen Überblick über die Sicherheitsdefizite der Einrichtungen habe. „Daher ist eine landesweite Untersuchung nötig, um Sicherheitsrisiken in allen fünf Standorten auszuschließen und weitere Bedrohungslagen für die Bevölkerung zu vermeiden“, sagte Weber.

Die vier Männer waren in einem unbeobachteten Moment am Mittwochabend der vorvergangenen Woche aus dem Klinikum am Weissenhof in Weinsberg (Kreis Heilbronn) geflohen. Einer von ihnen wurde einen Tag später festgenommen. Die anderen drei - 24, 28 und 36 Jahre alt - sind noch auf der Flucht. Die Polizei sucht mit Hochdruck nach ihnen.

Ein Sprecher Luchas wies die Behauptungen der SPD als haltlos zurück: „Der Schutz der Bevölkerung, aber auch des Personals in den Einrichtungen des Maßregelvollzugs, hat für das Land höchste Priorität.“ Gesichert werde der Maßregelvollzug durch bauliche und technische Mittel, zum Beispiel durch Panzerglas, elektronisch geregelte Schleusen, Alarmgeber und hohe Zäune um die Außenanlagen. Im Ministerium gebe es regelmäßige Dienstbesprechungen mit den Leitungen des Maßregelvollzugs, in denen alle Fragen rund um die Sicherheit regelmäßig besprochen würden. Sicherheitsbeauftragte der Einrichtungen kontrollierten und verbesserten diese Sicherungen ständig. „Hierbei besteht häufig ein enger fachlicher Austausch mit dem Justizvollzug und der Polizei“, sagte der Behördensprecher.

Zur Flucht nutzten die Männer einen schweren Beistelltisch mit Metallplatte. Damit drückten sie die Panzerglasscheibe des Flurfensters nach außen aus dem Rahmen. Danach seilten sie sich an aneinander geknoteten Leintüchern ab. Videoaufzeichnungen belegen, dass sich das innerhalb von weniger als 30 Sekunden abgespielt hat. Bei den Männern stand der Abbruch der Therapie bevor. Dies bedeutet, dass sie ins Gefängnis zurückgeschickt worden wären.

In Weinsberg hat es laut Ministerium seit 2005 keinen Ausbruch mehr aus dem gesicherten Bereich gegeben. Seit 2017 seien die Plätze des Maßregelvollzugs in den Zentren für Psychiatrie (ZfP) um rund 20 Prozent erhöht worden, von 1049 auf 1273 Plätze.

Es dürfe nicht sein, dass etwa 20 Prozent mehr Patienten im Maßregelvollzug mit derselben Personalstärke und mit derselben Technik wie vor der Überbelegung bewacht würden, sagte SPD-Gesundheitsexperte Florian Wahl. Außerdem müsse man sich mehr auf die Therapieabbrecher konzentrieren. „Hier ist eine Nachjustierung unbedingt nötigt. Das ist eine der Lehren von Weinsberg. Alle vier Ausbrecher standen vor dem Abbruch der Therapie und damit vor einer unmittelbaren Überstellung in den Strafvollzug.“

In den Maßregelvollzug kommen psychisch kranke und suchtkranke Menschen. Bei den Suchtkranken wird nach Auskunft des Sozialministeriums seit Jahren eine Veränderung der Patientenklientel beobachtet. „Den Einrichtungen werden, so klagen Praktiker aus der Forensik, in nicht unerheblichem Umfang Patienten zugewiesen, bei denen keine eindeutige Abhängigkeitserkrankung vorliegt, sondern eher ein missbräuchlicher Drogenkonsum als Teil des delinquenten Lebenswandels.“ An einer Reform des Paragrafen 64 StGB (Unterbringung in einer Entziehungsanstalt) werde gearbeitet. Die Arbeit der Bund-Länderarbeitsgruppe stehe kurz vor dem Abschluss.

Unterdessen floh am Montag aus der forensischen Klinik im Psychiatrischen Zentrum Nordbaden in Wiesloch ein 42 Jahre alter Mann. Der Mann ist nach Angaben der Polizei seit 2011 in der Klinik auf einer geschlossenen Rehabilitationsstation untergebracht. Der 42-Jährige nutzte einen begleiteten Aufenthalt auf einem Bauernhof der Einrichtung zur Flucht. Er wurde am selben Tag noch gefasst. Wahl verlangte von Lucha auch über diesen Vorfall Auskunft.

© dpa-infocom, dpa:211005-99-484949/6

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Erstellt:
5. Oktober 2021, 10:46 Uhr

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