Regierung in Not
Spielen die Liberalen mit dem Gedanken eines Koalitionsbruchs?
Der Entwurf des Leitantrags für den FDP-Bundesparteitag erinnert von Ferne an das Lambsdorff-Papier aus dem Jahre 1982. Das macht die Partner in der Ampel unruhig.
Von Norbert Wallet
Es herrscht Nervosität in der Ampelkoalition. SPD und Grüne schauen unruhig auf den kleinsten der drei Partner – die FDP. Spielen die Liberalen mit dem Gedanken eines Koalitionsbruchs? Es kursiert ein Papier, dass die Überlegung zumindest nahelegt. Wir beantworten die wichtigsten Fragen.
Was verursacht die jüngste Aufregung?
Es gibt ein Wort und ein Papier. Das Wort heißt „Wirtschaftswende“. Davon reden die FDP-Spitzenpolitiker derzeit immer wieder. Es ist ein politisch belastetes Wort, denn „die Wende“ – das war der Kampfbegriff, der 1982 das Ende der Regierung Helmut Schmidts beschrieb. Hans-Dietrich Genscher, der damalige FDP-Chef, hatte es schon im Sommer 1981 in die Welt gesetzt und Oppositionsführer Helmut Kohl baute den Begriff zur „geistig-moralischen Wende“ aus, die das Land brauche.
Ein Papier, das näher ausbuchstabiert, worin die Wende des Jahres 2024 bestehen soll, gibt es nun auch. Im politischen Berlin kursiert ein Entwurf zum Leitantrag des Parteivorstands für den FDP-Bundesparteitag Ende April in der Hauptstadt. „Deutschland braucht die Wirtschaftswende.“ Auch im Leitantrag ist dieser Satz zentral. Dann wird auf 14 Seiten aufgezeigt, wie sich die FDP das so vorstellt. Der Antrag liest sich in Teilen wie ein Gegenentwurf zum Kurs der Ampel: Die Liberalen kritisieren einen „übergroßen Sozialhaushalt“, wollen ein „dreijähriges Moratorium für den Sozialstaat“, in dem keine neue Leistungen eingeführt werden dürfen. Sie positionieren sich gegen eine Steigerung des Mindestlohns auf 15 Euro, wollen den Solidarzuschlag komplett abschaffen und Unternehmenssteuern so senken, dass Unternehmensgewinne nur noch mit „maximal 25 Prozent“ besteuert werden. Und natürlich soll nicht an der Schuldenbremse herumgedoktert, dafür aber Bürokratie abgebaut werden. Das erinnert wenigstens ganz von Ferne an das Lambsdorff-Papier aus dem Jahre 1982, dem damaligen Scheidebrief der Liberalen.
Was ist das Lambsdorff-Papier?
Unter dem Titel „Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“ legte der liberale Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff der sozialliberalen Koalition 1982 Bundeskanzler Helmut Schmidt ein Konzept vor, das Anleihen bei den Ideen Margaret Thatchers und Ronald Reagans nahm. Auch damals ging es um die Eindämmung der Kosten eines wachsenden Sozialstaats sowie um Deregulierung und Bürokratieabbau. Lambsdorff Thesen waren der argumentative Unterbau für den Koalitionswechsel der Liberalen.
Wie ernst ist es der FDP?
Jedenfalls hat die FDP Grund zur Sorge. Anfang Juni stehen die Europawahlen an und aktuell pendeln die Umfragen für die Partei um die 5-Prozent-Marke. Zwar gibt es bei den Europawahlen keine 5-Prozent-Klausel, aber ein schlechtes Abschneiden wäre auch in Hinblick auf die Bundestagswahlen im kommenden Jahr ein sehr schlechtes Vorzeichen. Es muss sich also etwas ändern. Das muss zwar nicht heißen, dass die Koalition platzt. Aber die Möglichkeit will Parteichef Christian Lindner durchaus im Werkzeugkasten haben. Ein Ausstieg funktionierte nur unter zwei Bedingungen: Es bräuchte den Nachweis unüberbrückbarer politischer Differenzen und einen ganz konkreten Anlass. Beides lieferte das aktuelle Papier. Es ist ein wirtschaftliches Gegenmodell zum gegenwärtigen Kurs der Regierung. Und der konkrete Anlass für die Wende 2.0 ließe sich aufgrund der Aussagen zum Sozialstaat schnell finden – die Kindergrundsicherung, deren Einführung noch immer der feste Plan der Bundesfamilienministerin ist, wäre der gegebene Stein des Anstoßes.
Sind die Gegensätze wirklich unüberwindbar?
Nein, durchaus nicht. Wie gesagt, es geht dem FDP-Chef nur um eine weitere Option im Machtpoker. Auf sachlicher Ebene hat der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck längst deutlich gemacht, dass er ebenfalls für Maßnahmen ist, die den Wirtschaftsstandort stärken. Da ließen sich allemal Kompromisse finden. Und auch Lindner selbst macht klar, dass er keine Totalkonfrontation sucht. Zuletzt hat er sowohl was die zukünftige Finanzierung der Bundeswehr als auch bei der Schuldenbremse eher moderatere Töne angeschlagen. Auch er weiß, dass der Ausstieg aus einer – noch so unbeliebten – Koalition ein ganz erhebliches Risiko darstellt. Es wäre tatsächlich das letzte Mittel in verzweifelter Lage.