Steife Brise statt Rückenwind - Kritik an Lernförderung

dpa/lsw Stuttgart. Mit dem neuen Lernprogramm will das Land vor allem die Lücken stopfen, die die monatelange Corona-Pandemie an den Schulen gerissen hat. Der Bedarf ist gewaltig, wie eine Umfrage zeigt. Aber reichen Tausende Hilfskräfte aus, um die enormen Defizite auszugleichen?

Eine Lehrerin unterrichtet zum Start des Förerprogramms vor dem regulären Schulbeginn Schüler. Foto: Bernd Weißbrod/dpa/Archivbild

Eine Lehrerin unterrichtet zum Start des Förerprogramms vor dem regulären Schulbeginn Schüler. Foto: Bernd Weißbrod/dpa/Archivbild

Statt Rückenwind nach den Herbstferien bekommt Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) in diesen Tagen vor allem den Gegenwind aus den Lehrerzimmern und von den Eltern zu spüren. Denn mit dem Start des zweiten großen Förderprogramms an baden-württembergischen Schulen wird auch die Kritik am Projekt „Lernen mit Rückenwind“ deutlich schärfer. Aber Schopper verteidigt sich vehement gegen die Gegner des Projekts.

„Setzt man voraus, dass das Land hier etwas Gutes initiieren wollte, dann ist das Ergebnis in jedem Fall ungenügend“, urteilte der Vorsitzende des baden-württembergischen Landeselternbeirats, Michael Mittelstaedt, am Montag der Deutschen Presse-Agentur. Unter anderem werde das Geld für das Projekt bis auf einen geringen Prozentsatz mit der Gießkanne verteilt. Aufwändige Anträge für höhere Förderzulagen ersparten sich viele Schulen, sagte Mittelstaedt.

Nach den „Lernbrücken“ in den Sommerferien soll Kindern und Jugendlichen seit dieser Woche mit einem weiteren Programm geholfen werden, Corona-Folgen und Lernlücken zu bewältigen. Allerdings sieht auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) das Ziel der Regierung als nicht erreicht an. „Das Land wird seinen Ansprüchen nicht gerecht“, sagte die GEW-Landesvorsitzende Monika Stein der dpa.

Deutlich unterschätzt werde vor allem der sozial-emotionale Bereich. „Wir hätten mehr Stellen benötigt für Schulpsychologinnen und Experten, wir brauchen Ansprechpartner direkt an den Schulen, eine Vor-Ort-Vermittlung also, damit uns die Schüler und Schülerinnen auf dem Weg zur Beratungsstelle nicht verloren gehen“, sagte Stein. „Aber den niederschwelligen Ansatz, den die Jungen und Mädchen brauchen, den erreichen wir nicht.“

Das Land hätte zudem den Lehrplan entschlacken und Inhalte sowie Prüfungen aus dem Plan streichen müssen, um Kapazitäten für „Rückenwind“ zu gewinnen. „Das kann man aber nicht vor Ort entscheiden“, sagte Stein. „Wenn man die Stunden gewinnen will, dann muss man im Kultusministerium den Mut und die Ehrlichkeit besitzen, die Notlage anzuerkennen und an die Inhalte und an die Stundentafel zu gehen.“

Kritik kam auch aus den Reihen der Opposition: „Die Module werden zu spät und kurzfristig freigeschaltet, die Schulleitungen warten zu lange auf neue Informationen“, kanzelte SPD-Bildungsexperte Stefan Fulst-Blei das Projekt ab. „Wenn die Landesregierung jetzt nicht gegensteuert, fährt sie auch dieses Programm an die Wand.“ Timm Kern von der FDP sagte, Zusatzbelastungen zur Aufarbeitung der Lernlücken könnten nicht auf den Rücken der vorhandenen Lehrkräfte geladen werden. Doch: „Die Vielzahl an notwendigen Unterstützungslehrkräften ist längst nicht in Sicht und das Rückenwind-Programm ist damit derzeit eher ein laues Lüftchen, wenn nicht gar eine Flaute.“

Schoppers Ministerium wehrt sich deutlich und mahnt zur Geduld: „Lernen mit Rückenwind“ sei ein über zwei Jahre angelegtes Programm. „Es ist also ein Marathon und kein Sprint“, sagte ein Sprecher. „Und natürlich wird im Laufe des Projekts an Stellschrauben gedreht.“

Es sei übertrieben und entbehre jeder Grundlage, das Programm bereits zu so einem frühen Zeitpunkt grundsätzlich als „ungenügend“ zu bezeichnen, rügte der Sprecher zudem den Landeselternbeirat. Außerdem sei „Lernen mit Rückenwind“ so gestaltet, dass die Profis vor Ort - die Schulleitungen und Lehrkräfte - die Mittel flexibel einsetzen könnten. „Wir arbeiten also nicht mit der Gießkanne, sondern geben den Schulen die Flexibilität, die sie benötigen, um die Schülerinnen und Schüler optimal fördern zu können“, verteidigte er sich.

Unter dem Titel „Lernen mit Rückenwind“ sollen arbeitslose Lehrer, Pensionäre, Lehrkräfte in Elternzeit oder beurlaubte Pädagogen ebenso eingesetzt werden wie Lehramtsstudierende, Sozialpädagogen und Erzieherinnen. Über ein Portal im Internet können sich auch Kooperationspartner wie Nachhilfeinstitute, Jugendhilfeorganisationen und Vereine registrieren lassen. Die Entscheidung über die Hilfen treffen die Schulen selbst und erhalten ein Budget.

Schülerinnen und Schüler können nach den Plänen des Landes durch weitere Lehrkräfte im normalen Unterricht zusätzlich gefördert werden. Auch gesonderter Förderunterricht für kleine Gruppen in zusätzlichen Schulstunden ist möglich. Außerdem gibt es Bildungsgutscheine, die Schülerinnen und Schüler etwa bei einem Nachhilfeinstitut einlösen können.

Nach Angaben des Ministeriums haben sich bislang 4500 Hilfskräfte über das Onlineportal gemeldet. Benötigt werden aber wohl deutlich mehr. Vor allem in ländlichen Regionen fehlt es an Freiwilligen. Außerdem seien über 6000 Förderkurse vereinbart worden. Ursprünglich war das Land von bis zu 25.000 Förderkursen ausgegangen. Es wird dauern, bis endgültige Zahlen auf den Tisch kommen können: „In den folgenden Wochen werden weitere Schulen hinzukommen, wenn die einzelnen Verträge mit den Unterstützungskräften final abgeschlossen sind“, sagte der Ministeriumssprecher. „Die Zahl der teilnehmenden Schulen wird somit sukzessive steigen.“

Das Programm richtet sich vor allem an Abschluss- und Übergangsklassen, also an die vierten Klassen der Grundschulen, die Klassen 9 und 10 und die Abiturjahrgänge. Im Fokus stehen die Fächer Mathe und Deutsch sowie Fremdsprachen. Die Kosten von rund 260 Millionen Euro teilen sich Bund und Land.

Der Bedarf ist unbestritten: Nach einer Forsa-Umfrage ist die Mehrheit der landesweit Befragten (66 Prozent) der Ansicht, dass im vergangenen Schuljahr 2020/2021 im Vergleich zur Zeit vor Corona „weniger“ oder sogar „deutlich weniger“ Schülerinnen und Schüler die Lernziele erreicht haben. Etwa jeder vierte Schüler im Land (27 Prozent) weise erhebliche Lernrückstände auf, bundesweit sind es 33 Prozent. Zwei Drittel der Lehrer bundesweit klagen über Motivations- und Konzentrationsprobleme bei den Schülern, ein Viertel über Schulschwänzer und aggressives Verhalten.

© dpa-infocom, dpa:211108-99-912428/5

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Erstellt:
8. November 2021, 12:44 Uhr

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