Oppositionsführer Lee Jae Myung
Südkoreas möglicher neuer Präsident scheidet die Geister
Für die einen ist er ein gefährlicher Populist, die anderen feiern ihn als politischen Robin Hood: Oppositionsführer Lee Jae Myung gilt als aussichtsreichster Kandidat im Falle von Neuwahlen.
Von Fabian Kretschmer
Südkoreas Staatskrise hat zu etlichen Rücktritten und gar Verhaftungen geführt. Doch Lee Jae Myung wurde durch sie unverhofft in die Überholspur katapultiert: Der Linkspopulist, dessen politische Zukunft aufgrund einer angefochtenen Bewährungsstrafe fraglich erschien, gilt mittlerweile als aussichtsreichster Kandidat fürs Präsidentenamt.
Ein Rückblick: Der konservative Staatsoberhaupt Yoon Suk Yeol hatte zu Beginn des Monats unverhofft das Kriegsrecht über sein Land ausgerufen. Was als Befreiungsschlag aus einer innenpolitischen Blockade gedacht war, endete am vergangenen Samstag in der südkoreanischen Nationalversammlung mit Yoons Amtsenthebung. Noch ist diese allerdings temporär: Das Verfassungsgericht wird in den nächsten Wochen und womöglich Monaten die Entscheidung der Parlamentarier entweder bestätigen oder für nichtig erklären. Bei ersterem müssten innerhalb von spätestens zwei Monaten Neuwahlen erfolgen.
Populismus polarisiert
Und der 61-jährige Lee bringt sich dafür bereits staatsmännisch in Stellung. Am Montag traf er sich mit dem Präsident der amerikanischen Handelskammer in Seoul, um für ausländische Investoren zu werben. „Betrachten Sie diesen Moment der Verwirrung als Chance, in Südkorea zu investieren oder zu einem niedrigen Preis zu einzukaufen“, sagte Lee. Es sind Aussagen wie diese, warum der studierten Jurist bei seinen Anhängern geradezu verehrt wird: stets pointiert, volksnah und authentisch.
Mit fast ähnlicher Passion wird Lee Jae Myung jedoch von vielen Koreanerinnen und Koreanern verachtet – und das nicht nur innerhalb des konservativen Lagers. Sein Populismus polarisiert ungemein, und auch Lees etliche Skandale bieten riesige Angriffsfläche. Zu Beginn des Jahres wurde Lee Jae Myung gar Opfer eines Messerangriffs – eine Folge der zunehmenden politischen Radikalisierung.
1963 wurde Lee als fünftes von sieben Kindern in der Stadt Andong geboren. Wie arm die Familie war, offenbart schon sein Geburtsdatum: In seinem Pass ist der 8. Dezember vermerkt, doch tatsächlich kam Lee Jae Myung bereits Ende Oktober zur Welt. Sein Vater – notorisch spiel- und vergnügungssüchtig – war schlicht zu spät bei der Registrierung des Neugeborenen.
Während der rasanten Industrialisierung des Landes zog die Familie in eine Trabantenstadt von Seoul, wo Lee als junger Teenager bereits in den Fabriken schuftete – oft unter Pseudonym, um das Arbeitsverbot für Kinder zu umgehen. Nur mit viel Glück konnte Lee aus dem Teufelskreis der Armut ausbrechen, indem er trotz widriger Umstände doch noch eine Oberschule besuchte und dank eines Stipendiums Rechtswissenschaften studieren konnte.
Jahre des Verzichts prägten ihn
Sein gesamtes politisches Weltbild basiert auf jenen Jahren des Verzichts: Lee Jae Myung strebt danach, den Reichen ihre Privilegien der Elite zu zäumen und die Armen zu fördern. Als Menschenrechtsaktivist konnte er seine Vision schließlich beruflich umsetzen. Und auch als Lokalpolitiker sorgte er für öffentlichkeitswirksame Akzente – etwa in Form von kostenlosen Schulmensen. Innerhalb des linken Lagers durchlief Lee Jae Myung schließlich in den letzten 20 Jahren eine steile Karriere, die ihn vom Bürgermeisterposten zum Provinzgouverneur in die Nationalversammlung brachte.
Dort produzierte er in den Nachtstunden des 3. Septembers Videoaufnahmen, die sich wohl noch über Generationen hinweg in das kollektive Gedächtnis der Südkoreaner einbrennen werden: Nachdem Präsident Yoon Suk Yeol gerade das Kriegsrecht ausgerufen hatte und Spezialkräfte des Militärs Richtung Parlament stürmten, filmte sich Lee Jae Myung mit der Selfie-Kamera, wie er rennend über den Parlamentszaun kletterte. Dort zwangen er und 189 weitere Abgeordnete in einer hastig einberufenen Abstimmung Yoon dazu, das Kriegsrecht wieder zurückzunehmen.
Während Lee unter Teilen des einfachen Volkes Heldenstatus genießt, lehnen viele seinen Aktivismus ab - etwa für seine Wirtschaftspolitik: Im teils neoliberalen Südkorea ein universelles Grundeinkommen zu fordern, wird als ziemlich radikale Position wahrgenommen.
Und dann wäre da noch die Außenpolitik. Als Präsident Yoon Suk Yeol im letzten Jahr eine historische wie gleichsam kontroverse Annäherung gegenüber der ehemaligen Kolonialmacht Japan einleitete, reagierte Lee Jae Myung mit einem 24-tägigen Hungerstreik. Damit wollte er auch gegen die Entscheidung protestieren, aufbereitetes radioaktives Wasser aus Fukushima ins Meer einzuleiten.
Auch in Bezug auf Nordkorea befürwortet Lee die sogenannte Sonnenscheinpolitik, die auf Annäherung setzt. Was auf dem Papier sinnvoll klingt, ist doch angesichts der politischen Realitäten äußerst naiv: Nordkoreas Machthaber Kim Jong Un hat den Süden unlängst per Verfassung zum Hauptfeind erklärt und droht auch immer unverhohlener mit seinem Atomarsenal. Dass Lee in einer solchen Stimmung weiterhin einige Wirtschaftssanktionen gegen Nordkorea aufheben möchte, ist ziemlich kontrovers.
Als naiv wird ebenfalls Lees China-Politik kritisiert. Der linke Politiker strebt, ähnlich wie etwa Singapur, einen Ausgleich zwischen den Weltmächten in Washington und Peking an. So gilt er als ausgesprochener Gegner des Raketenabwehrsystems THAAD, das vom US-Militär 2016 auf südkoreanischen Boden installiert – und damit massive Wirtschaftsboykotte von Seiten Chinas ausgelöst hatte. Um das ebenfalls demokratisch regierte Taiwan schert sich Lee Jae Myung zudem kein bisschen: „Warum sollten wir uns in die Frage der Taiwanstraße einmischen?“, sagte er 2022 in einem Interview.
Gleichzeitig, und das gehört zu den vielen Wiedersprüchen Lees, warf er China regelmäßig kulturelle Aneignung und „den Raub der koreanischen Kultur“ vor. Und sollte jemals ein chinesisches Fischerboot illegal in südkoreanische Gewässer eindringen, so würde er es „versenken“, ließ Lee 2022 in einem Interview wissen.
Ob der Linkspopulist tatsächlich seine Worte in die Tat umsetzen lässt, wird das Land frühestens in einem halben Jahr erfahren. Dann nämlich könnten bereits Neuwahlen anstehen. Lee Jae Myung hat dabei gleich einen doppelten Anreiz, möglichst früh zum Staatsoberhaupt gewählt zu werden. Denn erst im November wurde Lee von einem Gericht wegen Verstoßes gegen das Wahlgesetz zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt worden, nachdem er falsche Angaben zu Korruptionsvorwürfen machte. Noch läuft ein Berufungsverfahren gegen das Urteil. Sollte Lee den Prozess allerdings vor dem Zeitpunkt potenzieller Neuwahlen verlieren, dürfte er per Gesetz nicht mehr antreten.
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