Religion in Südostasien
Taiwans obdachlose Götterstatuen
Taiwans Nationalmuseum beherbergt Tausende Götterstatuen, die einmal obdachlos waren. Dahinter steckt eine einmalige Kombination aus buddhistischen Grundsätzen, Volksglaube und Konsumismus.
Von Felix Lill
Wer das Nationalmuseum von Taiwan besucht, begegnet vielen entscheidenden Elementen dessen, was den ostasiatischen Inselstaat ausmachen soll: Man sieht Karten mit Migrationsbewegungen aus Südostasien, Artefakte, die einen frühen Austausch mit Festlandchina und Europa dokumentieren.
Aber dann, im zweiten Stock, ist da ein Raum voll kleiner, dem Anschein nach buddhistischer Statuen, die hinter einer schützenden Glaswand stehen. Was sie außerdem eint: Sie waren mal vor die Tür gesetzt worden. „Genau deshalb stehen sie jetzt hier“, erklärt Li Tzu-ning, als er durchs Museum spaziert. Li, der Kurator der Dauerausstellung, sagt sichtbar stolz: „Wir haben Hunderte Statuen, die niemand mehr haben wollte. Ich habe sie hergeholt, weil sie für Taiwans Glaubenskultur stehen.“ Weggeworfene Statuen erklären die Religion der Menschen? Wie passt das zusammen?
Taiwan ist ein kultureller Schmelztiegel
Als „obdachlose Gottheiten“ werden die Objekte im Nationalmuseum bezeichnet. Sie erzählen tatsächlich eine Geschichte von Glauben, Ehrfurcht und Konsumismus, wie es sie wohl nur in Taiwan gibt. Denn die 24-Millionen-Insel südlich des chinesischen Festlandes ist – anders als im Ausland oft vermutet – keineswegs nur ein demokratisches, kleineres China. Taiwan ist ein kultureller Schmelztiegel mit vielfältigen Sprachen, Bräuchen oder auch Glaubenstraditionen. Und die gehen eben so weit, dass man hier manchmal seine Götter vor die Tür setzt.
Als Li Tzu-ning, ein älterer Herr mit strubbeligem Haar, durch die Ausstellung führt, erzählt er von einem Tag im Jahr 2016, als er den Longshan-Tempel besuchte, den berühmtesten buddhistischen Tempel in Taipeh. „In einem hinteren Raum fand ich dort Hunderte, vielleicht Tausende abgestellte Statuen. So etwas hatte ich vorher nie gesehen.“ Der Kurator, der gerade auf der Suche nach Objekten war, die er im Museum zum Thema Religion zeigen könnte, wollte mehr wissen. „Es stellte sich heraus, dass niemand wusste, wo sie herkamen! Sie tauchten einfach auf. Immer mehr!“
Li Tzu-ning erinnert sich daran, was ihm ein Mitarbeiter des Tempels berichtete: „Jeden Morgen standen neue Götterstatuen vorm Eingangstor. Irgendwelche Leute wollten sie wohl loswerden.“ Dass die Statuen, viele von ihnen klein, aber nicht einfach auf dem Müll landeten, sei kein Zufall gewesen. „Wenn die Besitzer diese Statuen weggeschmissen hätten, hätte das Unglück gebracht, vielleicht sogar einen Fluch. Daher stellten die Leute sie einfach an einem Tempel ab.“ Ein Tempel gelte für eine Gottheit als würdiger Ort. Der Kurator fragte, ob er die Statuen aufnehmen dürfte, was beim Tempel auf Erleichterung stieß. „Ich könne sie gerne alle haben, sagte man mir! Ungefähr 300 nahm ich dann mit.“
Religion wird nicht so sehr ernst genommen
„Die Menschen hier nehmen Religion meistens nicht so ernst“, sagt Li Tzu-ning. „Die Religionskultur in Taiwan funktioniert anders als westliche Religionen, folgt kaum strikten Vorgaben.“ Aber viele Menschen haben eben kleinere Götterstatuen als Talismans oder Glücksbringer; man trägt sie immer bei sich, oder hat zuhause einen Altar. „Ich selbst habe zum Beispiel eine Buddhastatue in meinem Auto. Immer, wenn ich mich im Straßenverkehr von Taipeh aufrege, sehe ich sie an, und das beruhigt mich dann.“ Was Li Tzu-ning da aus seinem Privatleben erzählt, ist für Taiwan üblich. So berichtet etwa der Student Alvin Chang über seine Generation: „Wir besuchen die Tempel auch heute noch. Wir sagen uns, dass wenn man das nicht macht und seine Götterstatuen nicht zum Tempel bringt, kriegt man bei Prüfungen keine guten Noten.“ Oder man werde einen Unfall bauen. „Wenn man dann zum Beispiel einen Verkehrsunfall hatte, muss man diesen konkreten Glücksbringer auswechseln. Denn er hat dann seinen Job getan, indem er einen noch schwereren Unfall verhindern konnte.“
Konsumorientierte Kultur von heute
Am Longshan-Tempel im Zentrum von Taipeh berichtet der Tempel-Angestellte Huang Wie-hsiang aus Erfahrung: „Hier im Tempel beherbergen wir buddhistische, taoistische und auch konfuzianistische Gottheiten. Wir haben diese Mischung, weil die Menschen in Taiwan meist keinem reinen Glauben folgen, sondern durch die vielen kulturellen Einflüsse über die Jahrhunderte ihre eigenen Glaubenstraditionen entwickelt haben.“
Huang sieht einen Zusammenhang mit der konsumorientierten Kultur von heute: „Immer mehr Menschen haben einen Gott nur noch für eine bestimmte Zeit und ersetzen ihn dann durch einen neuen.“ Letztes Jahr ergab eine Untersuchung, dass vor einem einzelnen Tempel 2500 Statuen abgestellt wurden. „Aber immerhin schmeißen die meisten Leute die Figuren nicht einfach weg. Denn das könnte großes Unglück bringen“, sagt Huang Wie-hsiang.