Tanzschulbetreiber fordern Lockerungen

Zum Jahrestag der Schließungen schicken bundesweit Tanzschulbetreiber ein Symbol ihrer Verzweiflung an das Bundeskanzleramt. Auch Tanzlehrer und Tänzer aus dem Rems-Murr-Kreis beteiligten sich an der Protestaktion.

Die Ballettlehrerin Claudia Rüter ist alleine in ihrer Tanzschule, umgeben von Kostümen und Ballettschuhen. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Die Ballettlehrerin Claudia Rüter ist alleine in ihrer Tanzschule, umgeben von Kostümen und Ballettschuhen. Foto: A. Becher

Von Anja La Roche

BACKNANG. Am 17. März verschickte Claudia Rüter, 51, ein Paket an das Bundeskanzleramt, welches einen Ballettschuh und einen Nagel enthielt. Die Inhaberin einer Ballettschule in Backnang beteiligte sich damit an einer bundesweiten Protestaktion, die folgende Botschaft hat: Wenn unsere Tanzschulen weiter geschlossen bleiben, müssen wir bald unsere Tanzschuhe an den Nagel hängen.

Eine ganze Branche tut damit ihre Existenzangst kund. Die Idee für diese symbolträchtige Aktion stammt von einem Tanzlehrer aus Saarbrücken, Ramon Gechnizdjani. Auch der Geschäftsführer des Deutschen Berufsverbands für Tanzpädagogik (DBfT), Jas Otrin, animierte seine Mitglieder dazu, bei der Aktion mitzumachen und ein Paket abzuschicken. Nach einer Einschätzung von Otrin lag die Teilnehmerzahl im dreistelligen Bereich.

„Tausende von Existenzen und Arbeitsplätzen sind in Gefahr.“

Claudia Rüter ist alleine in der nach ihr benannten Ballettschule anzutreffen. Die diplomierte Tanzlehrerin für Bühnentanz und Tanzpädagogik übernahm die Tanzschule 1997. Jetzt ist auch sie von Existenzängsten betroffen: „Wenn es so weitergeht, kann ich mir etwas anderes suchen“, sagt Rüter. Und das, obwohl die Hygienekonzepte ein sicheres Unterrichten ermöglichen würden. Zudem betont sie, wie auch der DBfT, die gesunde Wirkung von Bewegung auf das Immunsystem und die Psyche. Diese Sichtweise möchten die Tanzschulbetreiber von den Regierungen berücksichtigt wissen, wenn es um die Gesundheit der Gesellschaft geht.

Die Verzweiflung der Tanzschulen wurde mit der Protestaktion „Tanzschuhe an den Nagel hängen“ deutlich. „Tausende von Existenzen und Arbeitsplätzen sind in Gefahr“, schreibt der DBfT dazu. Die Tanzbranche kämpfe ums Überleben, und das, obwohl sie keine Pandemietreiber seien. Eine weitere Protestaktion fand am 19. März statt: Sylvia Elbs aus Welzheim und Felicitas Lehr aus Freiburg im Breisgau organisierten eine Briefflut, zusammen mit rund 200 Ballettschulen und Schulen für künstlerischen Tanz aus Baden-Württemberg. Unter dem Titel „Ausgetanzt – ein Leben ohne Tanz?“ wurden die Briefe an das Bundeskanzleramt und an das Staatsministerium in Baden-Württemberg geschickt.

Der Kampf der Branche um Berücksichtigung in der Coronapolitik dauert nun schon einige Monate. Zunächst mussten alle Tanzschulen im November-Lockdown schließen, aber der DBfT erwirkte eine Richtigstellung: Er bat die Landesregierung darum, Ballettschulen und Schulen für modernen Tanz nicht zu den Sporteinrichtungen zu zählen, sondern in den außerschulischen Bildungsbereich einzuordnen – mit Erfolg. Seit vergangenem Dezember stehen diese auf einer Stufe mit den Kunst- und Musikschulen und werden in den Coronamaßnahmen der Landesregierung auch dementsprechend berücksichtigt. Es ging bei den vergangenen Bemühungen des DBfT und der Initiative von Elbs und Lehr somit nicht nur um Öffnungsperspektiven für die Tanzlehrer, sondern auch um mehr Anerkennung der Tanzbranche als einem wichtigen kulturellen und erzieherischen Zweig, der tief in unserer Geschichte wurzelt. „Tanzen gehört zur Allgemeinbildung“, sagt auch Rüter. Sie wünscht sich, dass dies stärker ins Bewusstsein der Menschen gelangt.

Verändert hatte sich dann – trotz der Einstufung der Tanzschulen in den außerschulischen Bildungsbereich – doch nicht wirklich etwas, denn laut den aktuellen Kontaktbeschränkungen ist Gruppenunterricht nicht erlaubt; die Regel von maximal fünf Personen aus zwei Haushalten muss eingehalten werden. Während die Musikschulen zum Beispiel den Einzelunterricht in Präsenz umsetzen können, würde sich Einzelunterricht für Rüter finanziell nicht rentieren.

Am 15. Dezember vergangenes Jahr unterrichtete sie das letzte Mal in ihrer Tanzschule. Seitdem versucht sie, ihr komplettes Kursprogramm online umzusetzen, aber das geht mit erheblichen Nachteilen einher: Die Schüler haben daheim zu wenig Platz, nicht den richtigen Boden und keine Ballettstange. Zudem würden sich Ausführungsfehler einschleichen können, weil Rüter ihre Schüler nicht richtig korrigieren kann. Um den Online-Unterricht zu bereichern, hat Rüter sich inzwischen ein Repertoire an kreativen Ergänzungen zugelegt, darunter zum Beispiel ein Balletthörspiel für ihre jungen Schüler. Aber „schon wieder eine Bildschirmaktivität“, so Rüter, das würden viele Schüler nicht annehmen. Teilweise seien es nur noch zwei Schüler pro Kurs.

Marc Sailer, Inhaber der Dance Intense Factory in Backnang, klingt ebenfalls frustriert. „Wenn es so weitergeht, werden es bald viel weniger Tanzschulen sein“, sagt er. Auch seine Tanzschule bietet ein umfangreiches Online-Programm an, aber auch hier ist die Kundenzahl deutlich geschrumpft. Den langen Schließungen steht Sailer ambivalent gegenüber. „Das Letzte, das wir wollen, ist schuld sein an einer Verbreitung des Virus“, sagt der Tanzlehrer.

Aber auch er halte es für möglich, mit Hygieneregeln in kleinen Gruppen zu tanzen. „Es gibt nie eine 100-prozentige Sicherheit, aber wenn nur die symptomlosen Leute kommen und die Hygieneregeln eingehalten werden, halte ich es für relativ sicher“, so Sailer. „Beim Einkaufen im Supermarkt hat man weniger Abstand zwischen den Regalen“, fügt er hinzu.

Die Proteste machen den Wunsch nach Perspektiven in der Coronakrise wie auch den Wunsch nach mehr Anerkennung der Tanzbranche als musisch-ästhetische, erzieherische Einrichtungen der Gesellschaft laut. Eine Reaktion aus der Politik blieb bislang noch aus.

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Erstellt:
29. März 2021, 06:00 Uhr

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