Zu wenige Therapieplätze im Rems-Murr-Kreis

Der Bedarf an Psychotherapieplätzen steigt vor allem bei Kindern und Jugendlichen an, doch es scheint zu wenig Therapeuten zu geben. Was Betroffene tun können, um möglichst schnell an einen Therapieplatz zu gelangen.

Die langwierige Suche nach einem Psychotherapeuten kann Betroffene psychischer Erkrankungen zusätzlich belasten. Symbolfoto: WavebreakMediaMicro – stock.adobe.com

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Die langwierige Suche nach einem Psychotherapeuten kann Betroffene psychischer Erkrankungen zusätzlich belasten. Symbolfoto: WavebreakMediaMicro – stock.adobe.com

Von Carolin Aichholz

Rems-Murr. Sind es die Folgen der Coronapandemie, zahlreiche Krisen, zunehmender Stress und Druck in einer dauerbeschleunigten Leistungsgesellschaft, traumatische Erlebnisse, genetische Faktoren – oder doch alles zusammen? Laut Daten der Kaufmännischen Krankenkasse sind mittlerweile fast 17 Prozent der Versicherten im Südwesten von einer depressiven Episode oder einer wiederkehrenden Depression betroffen. Das ist der größte Anteil im Ländervergleich, der Bundesdurchschnitt liegt bei 14,5 Prozent.

Besonders stark ist der Therapiebedarf bei Kindern und Jugendlichen gestiegen. Auch darum wird es für die Patienten im Rems-Murr-Kreis zunehmend schwieriger, überhaupt einen Therapieplatz zu bekommen. „Die Nachfrage steigt kontinuierlich an“, sagt Kai Sonntag, der Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung in Baden-Württemberg (KVBW). Zwar seien die Kapazitäten in den vergangenen Jahren bereits stark ausgebaut worden, es reiche jedoch auch weiterhin nicht, um allen schnell einen Termin geben zu können.

Bürokratie und Arbeitsweise frisst Zeit

Einen möglichen Grund dafür sieht Sonntag vor allem in der Arbeitsweise der Psychotherapeuten, die schnelle oder kurzfristige Lösungen erschwert. „Man kann nicht einfach schnell einen Patienten dazwischenschieben. Und mit nur einem Termin ist die Sache dann meist ja auch nicht getan, bei Therapien ist der Behandlungsaufwand sehr hoch“, sagt Sonntag.

Alexandra Zeller ist Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche in Backnang und stimmt dem zu. Sie bekommt täglich etwa ein bis zwei neue Anfragen für einen Therapieplatz. „Ich führe zwar eine Warteliste, bin davon aber nicht überzeugt. Ich habe das Gefühl, Patienten werden auf unbestimmte Zeit vertröstet. Und oft ist nicht absehbar, wann der nächste Platz frei wird.“ Das liege daran, dass zu Beginn einer Therapie die Behandlungsdauer oft noch nicht genau abschätzbar sei, sagt Alexandra Zeller. „Manchmal merkt man, dass die Therapie während des Behandlungsverlaufs doch verlängert werden muss.“ Das mache es schwer, neuen Patienten verlässliche Angaben darüber zu machen, wann neue Plätze verfügbar sind.

Und ein weiteres Problem erschwert die Terminplanung der Therapeutinnen und Therapeuten: „Die bürokratischen Vorgaben sind immens hoch, was viel Zeit in Anspruch nimmt“, erklärt Alexandra Zeller. Neben dem Verfassen von Berichten für die Fachärzte, dem Ausfüllen von Anträgen an Gutachter bei Therapieverlängerungen, müssen auch die Akten geführt und der Therapieverlauf dokumentiert werden. Das sei notwendig, um damit erbrachte Leistungen nachzuweisen und abzubilden, habe jedoch auch Nachteile. „Es nimmt immer mehr Zeit in Anspruch, die uns in der direkten psychotherapeutischen Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen fehlt.“ Und speziell bei Therapeuten für Minderjährige komme auch noch die Zeit für die meistens notwendige Zusammenarbeit mit Schulen, Jugendämtern oder den Bezugspersonen wie Eltern als Zeitfaktor dazu.

Eigentlich sind genug Therapeuten da

Kai Sonntag betont als Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung, dass im Rems-Murr-Kreis eigentlich keine Unterversorgung herrscht. Es könnten sich jedoch insgesamt zwei weitere kassenärztlich zugelassene Psychotherapeuten hier niederlassen.

Psychotherapeutin Alexandra Zeller sieht die Bemessungsgrundlage kritisch. „Oft wird sie nur im Verhältnis zur Einwohnerzahl gesehen und viele weitere wichtige Faktoren werden kaum berücksichtigt.“ Sie sieht stattdessen ein Problem im System. „Es findet eine Verschiebung statt. Da die Kliniken auch voll sind, landen immer mehr Patienten, die eigentlich stationär behandelt werden müssten, in die ambulante Versorgung. Und für die typischen ambulanten Patienten fehlen dann wiederum Plätze.“

Es habe sich jedoch schon einiges getan, hält Kai Sommer dagegen. „Wir haben die Kapazitäten in den vergangenen Jahren stark ausgebaut, aber trotzdem reichen die nicht aus, um allen schnell einen Termin zu geben.“ Der Bedarf steige dafür zu schnell und zu stark an.

Per Vermittlungscode zum Therapieplatz

Durch die Einführung einer ersten Sprechstunde sowie der Akut- und Kurzzeittherapie soll abgeklärt werden, inwieweit überhaupt ein Therapiebedarf besteht. Sofern der Therapeut einen Behandlungsbedarf sieht, bekommt der Patient einen Vermittlungscode, mit dem er dann bei der Kassenärztlichen Vereinigung zeitnah einen Termin vermittelt bekommt.

Die Krankenkasse AOK versucht, mit der Einführung ihres Facharztprogramms eine bessere Zusammenarbeit von Haus-, Fachärzten und Psychotherapeuten zu schaffen. „Das Ziel ist eine höhere Versorgungsqualität und bei Bedarf eine schnellere Terminvergabe bei einem Psychiater oder Psychotherapeuten“, sagt Joachim Härle, Sprecher der AOK Ludwigsburg/Rems-Murr.

Therapeuten in der Umgebung können natürlich auch selbst abtelefoniert werden. Selbst wenn man Absagen erhält oder „nur“ auf eine Warteliste gesetzt wird, erhält man möglicherweise auch Hilfe bei der Suche oder unerwartet doch bald einen Therapieplatz. Dranbleiben sei wichtig, auch wenn das in solch einer Situation schwierig sei.

Alexandra Zeller versucht, auch Patienten, die sie ablehnen muss, dennoch weiterzuhelfen. „Oft rate ich auch zunächst andere, niederschwellige Hilfsangebote wie zum Beispiel psychologische Beratungs- oder Erziehungsberatungsstellen in Anspruch zu nehmen, überbrückend sozusagen, bis ein Therapieplatz gefunden ist.“

Der Weg zu einem Therapietermin

Hausarzt Der Hausarzt bietet eine erste Anlaufstelle, um über nächste Schritte zu beraten oder eventuell Kontakte zu vermitteln.

Terminvergabestelle Unter der Telefonnummer 116117 vermittelt die KVBW innerhalb von vier Wochen einen Termin für eine erste Sprechstunde. Dort soll in ein bis drei Terminen eine fachlich fundierte Diagnose und eine Behandlungsempfehlung erstellt werden. Sollte eine Therapie empfohlen werden, erhält der Patient einen Vermittlungscode, mit dem er schneller Termine bei einem Therapeuten vereinbaren kann.

Niederschwelligere Angebote Betroffene können sich auch zunächst an psychologische Beratungsstellen oder Erziehungsberatungsstellen wenden. In Backnang gibt es den Kreisdiakonieverband Rems-Murr, bei dem Einzelberatungen und Selbsthilfegruppen besucht werden können.

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Erstellt:
20. November 2023, 06:00 Uhr

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