Revolutionär für Japan
Tokio will die Vier-Tage-Woche
Spät Feierabend, wenig Urlaub: Japans Arbeitsleben ist weltweit als familienunfreundlich bekannt. Inmitten niedriger Geburtenraten wagt die Hauptstadt Tokio nun einen Vorstoß: Die Einführung der Vier-Tage-Woche.
Von Felix Lill
Tokios Gouverneurin Yuriko Koike kennt man in Japan als das, was im ostasiatischen Land „career woman“ genannt wird: Eine Frau, die für ihre Karriere auf die Gründung einer Familie verzichtet. Doch diese Zuschreibung gefällt der 72-jährigen nicht: „Es wäre schön gewesen, Kinder zu haben“, sagt sie. „Nur wäre mein Leben so ja ganz anders verlaufen.“ Die größte Metropole der Welt hätte Koike mit Kind jedenfalls kaum regieren können, zumal in Japan nicht, wo die Arbeitstage lang sind und der Urlaub kurz.
Aber Yuriko Koike, eine der mächtigsten Politikerinnen Japans, hat nun vor, ihrem Stand einer „career woman“ ein Ende zu bereiten. In einer Grundsatzrede in Tokio Anfang Dezember erklärte sie: „Wir werden Arbeitsstile überprüfen und dabei flexibel sein, damit niemand die eigene Karriere aufgrund von Lebensereignissen wie der Geburt eines Kindes oder der Kinderbetreuung aufgeben muss.“ Tokio, mit 37 Millionen Menschen der größte Ballungsraum der Welt, werde dabei voranschreiten, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern.
In Japan geradezu revolutionär
Ab April, wenn in Japan das neue Fiskaljahr beginnt, sollen Angestellte der Metropolregierung Tokios die Möglichkeit erhalten, statt fünf nur noch vier Tage zu arbeiten. Außerdem sollen Angestellte, die Kinder im Alter der ersten drei Schuljahre haben, für einen teilweisen Lohnverzicht die Option haben, früher ihren Arbeitsplatz zu verlassen.
Was überall auf der Welt eine arbeitsmarktpolitische Innovation wäre, ist in Japan geradezu revolutionär: In Vergleichen der OECD, die die meisten Industriestaaten umfasst, ist das ostasiatische Land notorisch für sein hartes Arbeitsleben. 15,7 Prozent der Arbeitskräfte arbeiten wöchentlich mehr als 50 Stunden, ein deutlich höherer Anteil als der OECD-Durchschnitt von zehn Prozent. Zudem widmen Arbeitskräfte in Japan täglich eine Stunde weniger der Freizeit als es im Rest der Industriestaaten üblich ist.
Von den rund 20 Urlaubstagen, die Angestellten in Japan meist zustehen, nimmt der Durchschnitt auch nur die Hälfte wahr. Denn es würde als gierig gelten, sie in Gänze zu beanspruchen. Entsprechend werden gerade Frauen häufig aus dem Job gedrängt, sobald sie ein Kind erwarten. Denn selbst wenn die gesetzliche Lage es vorsieht, dass werdende Mütter am Arbeitsplatz geschützt und auch nach der Geburt weitergefördert werden, scheitert dies oft an der Praxis. Väter wiederum, die Elternzeit nehmen wollen, werden vom Chef auch oft abgelehnt.
Japans Bevölkerung schrumpft
In der Familiensoziologie gilt das Fehlen echter Unterstützung als wichtiger Grund, warum Menschen weniger Kinder zu Welt bringen als sie es gerne täten. Japan ist ein Paradebeispiel: Umfragen zeigen, dass die Menschen im Schnitt gern 2,3 Kinder hätten, aber die Fertilitätsrate –die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau über das Leben – betrug zuletzt nur 1,20. Japans Bevölkerung schrumpft. In Tokio, wo das Leben teuer ist und die Verfügbarkeit von Betreuungsplätzen für Kleinkinder begrenzt, beträgt die Fertilitätsrate gar nur 0,99.
Aber das Problem wollen in letzter Zeit mehrere Politiker erkannt haben. Im vergangenen Jahr erklärte der damalige Premierminister Fumio Kishida, das Budget für Familienpolitik um rund 50 Prozent zu erhöhen, vor allem in Gestalt von Elterngeld. Für ein Kind im Alter von bis zu zwei Jahren sollen Eltern künftig 15 000 Yen (rund 93 Euro) Unterstützung pro Monat erhalten, für Kinder bis zum Schulabschluss sollen es noch monatlich 10 000 Yen sein.
Aber Yuriko Koike, die kinderlose Gouverneurin in der 37-Millionenmetropole Tokio, will das Problem eben nicht nur seitens der Unterstützungsgelder angehen, sondern mit einer Lockerung des Arbeitslebens. Und damit könnte sie ihre Stadt tatsächlich auf einen vielversprechenden Weg bringen. Denn eine Vier-Tage-Woche ist zumindest als Konzept auch schon anderswo in Japan getestet worden. So experimentierte Microsoft Japan im Sommer 2019 einen Monat lang die Vier-Tage-Woche bei vollem Gehalt. Wer befürchtet hatte, dass fortan die Arbeit nicht mehr erledigt würde, sah sich bald eines Besseren belehrt. Nicht nur wurden 58 Prozent weniger Seiten Papier gedruckt und der Stromverbrauch um ein knappes Viertel reduziert. Die Arbeitsproduktivität stieg um 40 Prozent. Gut neun von zehn Angestellten gaben an, mit dem Projekt glücklich zu sein.
Experiment schlug hohe Wellen
Das Experiment schlug in Japan damals derart hohe Wellen, dass sich bald auch die nationale Regierung der Sache annahm. Im Jahr 2021 empfahl ein Gremium der regierenden konservativen Liberaldemokratischen Partei, dass es Menschen freigestellt sein sollte, ob sie vier oder fünf Tage in der Woche arbeiten wollen. So bliebe mehr frei wählbare Zeit für Hobbys und Familie sowie für Weiterbildungen. Unternehmen sollen seither dazu angehalten werden, ihren Arbeitskräften die Entscheidung über deren Arbeitszeit selbst zu überlassen.
Allerdings wiesen Arbeitsmarktexperten schon damals darauf hin, dass eine bloße Empfehlung an die Arbeitgeber wenig bringen dürfte. Einerseits sind nämlich Gewerkschaften, die so etwas einfordern könnten, in Japan eher schwach. Andererseits wäre in vielen Fällen unklar, ob weniger Arbeit auch mit weniger Lohn einherginge. Weiterhin besteht in Japan auch die kulturelle Norm, nicht negativ auffallen zu wollen, schon gar nicht als faul. So wird die Bescheidenheit und Einsatzbereitschaft der Arbeitskräfte von den Betrieben oft ausgenutzt.