Zwei Jahre nach dem Erdbeben
Türkei: Aufbau mit Hindernissen
An diesem Donnerstag jährt sich zum zweiten Mal das katastrophale Erdbeben in der Türkei. Hinterbliebene kämpfen dafür, dass Behörden und Politiker Rechenschaft für Fehler übernehmen.
Von Susanne Güsten
Bilder von glücklichen Menschen liegen am Ufer des Bosporus auf dem Pflaster aus, mit Blumen und Kerzen geschmückt: ein älteres Ehepaar untergehakt auf einem Balkon, ein Junge im Sporttrikot, ein Kind im Garten. Ihre Hinterbliebenen haben die Bilder hier auf einem zentralen Platz von Istanbul ausgelegt, um zum zweiten Jahrestag des Erdbebens in der Südosttürkei an sie zu erinnern. Traurige Musik weht über den Platz; eine schwarz gekleidete Frau klettert auf das Denkmal hoch zu Atatürk, um sich an die vorbei hastenden Passanten zu wenden. „Zwei Jahre sind vergangen, und die Verantwortlichen sind noch nicht zur Rechenschaft gezogen worden“, ruft die Frau in ein Mikrofon. „Bitte helft uns, Gerechtigkeit zu erkämpfen!“
Ein junger Mann in Jeansjacke steckt sich ein Trauerkärtchen an, wie das bei Beerdigungen in der Türkei üblich ist. Yigit Göktug Torun verlor bei dem Beben in Antakya seinen Vater und seine Mutter. „Sie lebten in einer Neubauwohnung im Stadtzentrum“, erzählt der 27-jährige Hochschulassistent. „Das Gebäude stürzte in der siebten Sekunde des Erdbebens ein und geriet in Brand. Von meinen Eltern blieb nichts übrig, sie haben nicht einmal ein Grab. Das sollte kein Mensch ertragen müssen.“
Gedenkveranstaltung wird Protestkundgebung
Deshalb ist Torun hier bei der Gedenkveranstaltung, die gleichzeitig eine Protestkundgebung ist. „Schluss mit dem Sterben für Profite“, steht auf seinem handgemalten Plakat: „Die Verantwortlichen müssen vor Gericht.“ Seine Eltern hätten nicht sterben müssen, ist Torun überzeugt. Nicht vom Beben seien sie getötet worden, sondern von der Fahrlässigkeit der Bauherren und der Behörden, die das Gebäude genehmigten – doch bisher steht nur der Hausbesitzer vor Gericht.
In anderen Fällen ist die Justiz noch schwerfälliger, etwa bei der Familie der Studentin Döne Kaya. „Ich habe bei dem Beben meine Mutter verloren, meine Schwester, meinen Bruder und meinen neun Monate alten Neffen“, sagt die 28-Jährige. „Das Gerichtsverfahren hat letzten Freitag begonnen, also zwei Jahre nach dem Einsturz.“ Vor Gericht stehen der Bauherr und sein Sohn, aber kein Vertreter der Baubehörden oder des Ministeriums, berichtet sie. „Meiner Ansicht nach müsste der Prozess umgekehrt anfangen, ganz oben beim Bauministerium, das das erdbebengefährdete Gebiet zur Bebauung freigegeben hat.“
Amtsträger werden kaum zur Verantwortung gezogen
Der 37-jährige Rechtsanwalt Eren Can verlor beim Beben beide Eltern – und da gibt es noch überhaupt kein Verfahren. Die Staatsanwaltschaft sagt, sie warte auf ein Gutachten für das Gebäude, in dem 32 Menschen starben. Can engagiert sich inzwischen als Anwalt für andere Hinterbliebene. „Wir fordern, den Angeklagten nicht nur fahrlässige Tötung zur Last zu legen, wie die Staatsanwaltschaft das bisher meist tut, sondern Totschlag“, sagt er. „Doch so ein Urteil hat es bisher nur einmal gegeben, gegen einen Bauherrn in Adana.“ Noch schwieriger sei es, die Amtsträger zur Verantwortung zu ziehen, sagt der Anwalt, denn für Ermittlungen gegen Beamte und Mandatsträger braucht die Staatsanwaltschaft in der Türkei stets eine Genehmigung der übergeordneten Behörde. „Die Genehmigung wird nur selten erteilt. Manchmal lehnen die Behörden ab, manchmal antworten sie gar nicht.“
Landesweit haben Menschenrechtler und Zivilgesellschaft seit den Beben erst 40 Fälle gezählt, bei denen Ermittlungsverfahren gegen Behördenvertreter genehmigt wurden, alle auf kommunaler Ebene und niedrigstem Rang. Genaueres ist nicht zu erfahren, weil das Innenministerium sich weigert, die Zahl der Ermittlungen gegen öffentliche Amtsinhaber herauszugeben. Eine Klage zivilgesellschaftlicher Vereine auf Herausgabe dieser Information quält sich seit einem Jahr durch die Instanzen, bisher ohne Ergebnis.
Verein fordert Rechenschaft ein
„Um Rechenschaft einzufordern“ habe ihr Verein das Innenministerium auf Herausgabe der Zahlen verklagt, sagt Emel Kurma vom türkischen Bürgerrechtsverein HYD. Früher habe die türkische Regierung zumindest noch so getan, als wäre sie dem Volk verantwortlich. „Jetzt haben sie es nicht einmal mehr nötig, so zu tun, als wären sie uns zu Rechenschaft verpflichtet“, sagt Kurma. „Unsere Anfrage war einfach eine Erinnerung daran, dass wir Bürger noch immer das Recht auf Auskunft haben und die Regierung uns Rechenschaft schuldet.“
Auf die Rechenschaftspflicht komme es an, findet auch Yigit Göktug Torun, der Vollwaise aus Antakya; die verantwortlichen Amts- und Mandatsträger müssten bestraft werden. „Wir kämpfen darum, dass diese Behörden vorsichtiger werden müssen beim Abzeichnen der Genehmigungen“, sagt er. „Denn wenn es weiter keine Strafen gibt für diese leichtfertigen Unterschriften, dann werden sie auch weiter alles abzeichnen und genehmigen. Und dann werden weiter Menschen sterben.“ Seine Mutter und seinen Vater werde dieser Kampf nicht zurückbringen, sagt Torun, aber vielleicht anderen Menschen das Leben retten.
Brandkatastrophe im Skihotel
Dafür stehe auch sie auf der Straße, sagt Döne Kaya. Ihr eigener Schmerz sei in diesem Leben nicht mehr zu stillen, doch sie kämpfe für ihre Landsleute. „Denken wir nur an das Feuer in Kartalkaya neulich“, erinnert die Studentin an den Großbrand in einem Skihotel vor zwei Wochen: 79 Menschen starben, weil am Brandschutz und an der Aufsicht gespart worden war.
„Wenn die Schuldigen an dem Einsturz Zehntausender Häuser in der Erdbebenregion vor Gericht gestellt worden wären, wenn die fahrlässigen Unterzeichner von Genehmigungen verurteilt worden wären, dann wären diese 79 Menschen jetzt vielleicht noch am Leben.“
Wie schon nach der Erdbebenkatastrophe von 2023 kündigte die türkische Regierung jetzt auch nach der Brandkatastrophe wieder an, dass die Schuldigen zur Rechenschaft gezogen und streng bestraft würden – „jeder einzelne von ihnen“, wie Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan immer betont.
Emel Kurma vom Bürgerverein glaubt nicht daran. „Je größer ihre Worte, desto kleiner ihre Taten, das ist unsere Erfahrung“, sagt die Bürgerrechtlerin.
Mehr als 53 000 Tote
Menschenleben Als „Katastrophe des Jahrhunderts“ wird das schwere Erdbeben vom 6. Februar 2023 in der Türkei bezeichnet. Zwei Erdstöße der Stärke 7,7 und 7,6 erschütterten elf der 81 Provinzen der Türkei, töteten mehr als 53 000 Menschen und verletzten über 100 000 weitere. Präsident Erdogan setzte nach dem Unglück ein gigantisches Wiederaufbauprogramm in Gang.
Wiederaufbau Bisher sind 200 000 neue Wohnungen entstanden, bis Ende des Jahres sollen es mehr als doppelt so viele sein. An 19 000 Baustellen sind 160 000 Arbeiter beschäftigt. In einigen Teilen des Katastrophengebietes kommt der Wiederaufbau allerdings nur langsam voran. (güst)