Überfall nach Mafiamanier
Alten Kriminalfällen auf der Spur: Ein akribisch geplanter Raubüberfall von fünf Italienern auf das damalige Spielcasino „Monte Carlo“ in Backnang im Oktober 1978 scheitert. Drei Besucher des Casinos werden schwer verletzt, einer davon verblutet.
Von Hans-Christoph Werner
BACKNANG. Für einen kurzen Augenblick schwappt im Oktober 1978 sizilianisches Mafiaflair durch die Murr-Metropole. Und alles, was man als Klischee der „ehrenwerten Gesellschaft“ verinnerlicht hat, findet man bestätigt. Die Akteure: fünf italienische Staatsbürger im Alter von 22 bis 32 Jahren. Das Objekt der Begierde: das Spielcasino „Monte Carlo“ in der Gartenstraße in Backnang, das längst abgerissen und einer riesigen Brachfläche (Obere Walke) gewichen ist. Dort trifft sich die Backnanger Halbwelt, so sind die Täter damals überzeugt. Und die ist fein ausgestattet mit Geld, Schmuck und wertvollen Uhren. Also gilt es einen Plan zu ersinnen, wie man die Herrschaften stellen und ihnen die Preziosen abnehmen kann.
In wechselnden Gruppen wird die Spielstätte von den Akteuren, nennen wir sie Roberto, Alessandro, Luigi, Giuseppe und Luca, an verschiedenen Tagen zuvor ausgekundschaftet. Man will mit den Örtlichkeiten vertraut sein. Dann muss natürlich für den geplanten Überfall einheitliche Arbeitskleidung her. Im bekannten Kaufhaus Breuninger in Stuttgart ersteht man die blauen Arbeitsoveralls samt grünen Skimützen. Die Verkäuferin wird sich später an die Einkäufer erinnern. In die Skimützen werden Sehschlitze geschnitten, deren Ränder aber nicht eingefasst werden. So lösen sich später einzelne Fäden, mit denen die Polizei später das Tatfahrzeug identifizieren kann. Ein wichtiges Indiz für die Beamten.
Quintett ist mit Maschinenpistolen amerikanischer Bauart ausgestattet.
Aber mit Verkleidung allein ist’s nicht getan. Man muss seine Opfer einzuschüchtern wissen. Mit einer Pistole? Zu schlicht. Auf unbekanntem Wege verschafft sich das Quintett drei Maschinenpistolen amerikanischer Bauart. Das Ding nur in der Hand halten zu können, genügt freilich nicht. So trifft man sich Tage vor der Tat zu Schießübungen in den Wäldern rund um Stuttgart.
Auch die „Abreise“ nach der Tat wird geplant. Fünf Personen in einem Auto – das könnte auffällig wirken. Also wird ein zweiter Wagen, ein Alfa Romeo, in der Murr-Metropole geparkt. Die Anreise erfolgt in einem Mercedes. Mitten in der Nacht, so gegen 3.30 Uhr, scheint den Tätern der richtige Zeitpunkt zu sein.
Als das Quintett vorgefahren ist und der Fahrer am Steuer sitzen bleibt, schlüpfen die anderen im Schutz der Dunkelheit in die Arbeitsanzüge. Zu dumm, dass just zu diesem Zeitpunkt zwei türkische Besucher den Klingelknopf an der Eingangstür des Spielcasinos drücken und damit die Außenbeleuchtung auslösen. So bleibt keine andere Lösung, als die beiden Besucher mit der in den Rücken gepressten Maschinenpistole in das Etablissement zu geleiten. Im Gebäude dann erst mal ein Warnschuss auf den Fußboden, damit auch der letzte Gast begriffen hat, was die Stunde geschlagen hat.
Alle Besucher des Casinos, ungefähr 40 an der Zahl, müssen sich mit erhobenen Händen entlang der Wand aufstellen. Dann schreiten jeweils zwei Täter die Reihe ab. Einer hält die MP, der andere durchsucht die Taschen der Gäste nach Wertsachen und sammelt sie in einer Plastiktüte. Einer der Besucher, türkischer Nationalität, will besonders mutig sein. Er versucht, einem der Täter die Skimütze vom Kopf zu ziehen. Sofort wird er mit dem Kolben der MP ins Gesicht und gegen den Oberkörper geschlagen. Der Geschlagene geht zu Boden, greift in seine Jackeninnentasche. Roberto wittert die Gefahr, dass der Überfallene seinerseits eine Waffe haben könnte, und betätigt den Abzug seiner MP. Die Kugel durchschlägt den Oberkörper des Türken, dringt am Rücken wieder nach draußen und verletzt einen neben dem Türken stehenden Italiener. Ein weiterer Schuss fällt, eine dritte Person wird lebensgefährlich verletzt. Während der türkische Casinobesucher an Ort und Stelle innerlich verblutet, können die anderen beiden Verletzten im Krankenhaus durch Operationen gerettet werden.
Für die Täter ist der Zwischenfall Anlass, ihre Wirkungsstätte fluchtartig zu verlassen. Wie abgesprochen verteilen sie sich auf zwei Fahrzeuge und rasen auf getrennten Wegen zurück nach Stuttgart. Auch den Fluchtweg hat man nicht dem Zufall überlassen, sondern zuvor bei Probefahrten die Zeitdauer getestet. Wichtig: Auf der Fahrt wird die Arbeitskleidung samt Bewaffnung durch das Autofenster entsorgt. Spaziergänger werden die Utensilien am nächsten Tag auffinden. Ein Foto der Arbeitskleidung samt Aufruf, verdächtige Beobachtungen zu melden, erscheint in der Backnanger Kreiszeitung. Zwei der Täter werden gegen 4 Uhr auf der B10 bei Zuffenhausen von einer Polizeistreife wegen zu hoher Geschwindigkeit kontrolliert. Die Beamten wollen die Papiere sehen. Diese sind in Ordnung und so darf das Duo nach ein paar mahnenden Worten der Polizisten weiterfahren.
Keine zehn Minuten später wird aufgrund des Überfalls in Backnang Ringalarm ausgelöst, und die beiden Täter hätten unter Umständen nicht so leicht weiterfahren können. Man trifft sich in einer Bar der Landeshauptstadt und gesteht sich das Misslingen ein. Roberto nimmt an, dass er drei Menschen getötet hat. Da unter den Casinobesuchern auch Landsleute waren, fürchtet man deren Rache. Und überhaupt ist es gut, sich nicht länger in Stuttgart aufzuhalten.
Einer der Gangster nimmt frühmorgens das Flugzeug nach Mailand. Zwei andere wollen dasselbe Ziel mit dem Auto erreichen. Dabei passieren sie den schweizerisch-italienischen Grenzübergang Chiasso-Como. Weil Luigi in Italien kein unbeschriebenes Blatt ist, wird er festgenommen, kommt aber am nächsten Tag gleich wieder frei. Einziger Grund: Im Gefängnis war kein Platz für ihn. Bei der Flucht kommt die deutsche Freundin von Alessandro mit. Roberto macht den Vorschlag, sie als Mitwisserin zu erschießen. Es kommt nicht dazu.
Monate später sind zwei Täter in Italien in Haft, zwei sind flüchtig. Einer, der 24-jährige Alessandro, geht der Polizei in der Schweiz ins Netz und wird nach Deutschland ausgeliefert. Wie man der Täter habhaft wurde, geben die Gerichtsakten leider nicht her. Alessandro bestreitet jegliche Tatbeteiligung. Viele der Casinobesucher der Tatnacht werden in der Verhandlung gegen ihn als Zeugen vernommen. Unter diesen auch einer mit dem schönen Namen „Glatzen-Willy“.
Einer der fünf Täter konnte nie gefasst werden.
Aber die Aussagen der Zeugen sind äußerst widersprüchlich. Man kann den Eindruck gewinnen, dass die Zeugen nach dem Motto aussagten: nur nicht den Angeklagten – aus welchen Gründen auch immer – unnötig belasten. Alessandro wird schließlich im August 1981 wegen gemeinschaftlichen Raubes, gemeinschaftlichen Mordes und versuchten Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. „Auch wenn der Angeklagte nicht bewaffnet war“, heißt es im Urteil, „so muss er sich ebenso wie die übrigen Mittäter die beiden Schüsse des Roberto als eigene Tat anrechnen lassen.“
Schon zwei Jahre später bittet Alessandro, die Reststrafe zur Bewährung auszusetzen und ihn nach Italien abzuschieben. Aber die deutschen Behörden verweisen auf die Regelung, dass bei lebenslänglicher Freiheitsstrafe mindestens 15 Jahre abgesessen werden müssen.
Zwei anderen Tatbeteiligten wird in Italien der Prozess gemacht. Ein intensiver Schriftwechsel in dieser Sache ist in den Gerichtsakten dokumentiert. Von der Staatsanwaltschaft Stuttgart gehen die Schriftstücke erst an das Justizministerium im Bundesland, dann an das Justizministerium des Bundes in Bonn. Vom „Ministerium für Gnadenwesen und Justiz der Republik Italien“ kommen die Antworten. In Italien hat man es allerdings nicht so eilig wie in Deutschland. Erst im Januar 1983 werden drei Täter (einer in Abwesenheit) zu lebenslanger beziehungsweise 23 Jahren Haft verurteilt. Ein Jahr später werden die Urteile dann abgemildert. Sie lauten dann auf 18 beziehungsweise 13 Jahre Gefängnis. Einer der Täter ist nie gefasst worden.