Flüchtlingskommissar der UN

„Grenzkontrollen schrecken die wirklich Verzweifelten nicht ab“

Der UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi ruft die Europäer auf, im Umgang mit Flüchtlingen das Völkerrecht und grundlegende Menschenrechte zu achten. Es gebe Alternativen zu restriktiven Maßnahmen oder der Zurückweisung an den Grenzen.

Der Italiener Filippo Grandi steht seit 2016 an der Spitze des UNHCR.

© UNHCR// Mark Henley

Der Italiener Filippo Grandi steht seit 2016 an der Spitze des UNHCR.

Von Rainer Pörtner

Wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Flüchtlingsagentur der Vereinten Nationen (UNHCR) gegründet, um Millionen von europäischen Flüchtlingen zu helfen. Seit langem ist sie weltweit tätig. Filippo Grandi, seit 2016 Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, zeigt sich tief besorgt über die aktuelle Asyldebatte in Europa.

Herr Grandi, die Zahl der Flüchtlinge steigt weltweit an. Gleichzeitig sinkt in vielen Ländern die Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Durch Konflikte, Gewalt und Verfolgung sind inzwischen weltweit 120 Millionen Menschen vertrieben worden. Und diese Zahl ist jetzt zwölf Jahre in Folge gestiegen. Die meisten dieser Menschen – fast 70 Millionen – werden innerhalb der Grenzen ihres eigenen Landes vertrieben. Mehr als 40 Millionen sind jedoch Flüchtlinge, die in einem anderen Land Schutz suchen. Ohne Frieden können die zur Flucht gezwungenen Menschen nicht sicher in ihre Heimat zurückkehren. Und diese Zahl wird nicht sinken.

Ich habe in letzter Zeit viele Orte in Krisen- und Kriegsgebieten besucht, darunter die Ukraine und den Sudan. Ich habe Flüchtlinge und Binnenvertriebene getroffen, die unter schrecklichen Bedingungen unter den Folgen von Krieg und Zerstörung leiden. Was wir am dringendsten brauchen, ist Frieden, die Beseitigung der grundlegenden Gründe für die Flucht, Schutz für Menschen in verzweifelter Not und mehr weltweite Solidarität. Mit den Vertriebenen, aber auch den Gemeinschaften, die sie aufnehmen – oft mit sehr geringen Mitteln.

Wie weit trifft es zu, dass insbesondere wohlhabende Länder wie Deutschland immer stärker zum Ziel von Flüchtlingen werden?

Deutschland ist sicher ein Ziel für Asylbewerber, und in den letzten zehn Jahren war das Land in der Tat ein großzügiger Gastgeber für Menschen, die zur Flucht gezwungen waren. Alle Länder müssen an einem Strang ziehen, um dieses Problem zu bewältigen. Und der EU-Pakt zu Migration und Asyl zielt zu Recht darauf ab, die Zusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten zu verbessern und die Verantwortung besser zu teilen.

Es ist aber wichtig festzustellen, dass es einfach nicht stimmt, dass die meisten Flüchtlinge in wohlhabende Länder kommen wollen. Aus unseren UNHCR-Daten geht hervor, dass etwa 75 Prozent der Flüchtlinge weltweit entweder in armen oder in Ländern mit mittlerem Einkommen untergebracht sind. Und die meisten davon sind in der Nähe ihres Heimatlandes.

Denken Sie daran, dass die meisten Menschen ihre Heimat nicht verlassen würden, wenn sie eine andere Wahl hätten. Die Risiken dieser gefährlichen Reisen sind erschreckend und beinhalten Entführung, Erpressung und schreckliche Misshandlungen durch kriminelle Schleuser und Menschenhändler. Zwischen 2021 und 2023 starben oder verschwanden 7600 Menschen im Mittelmeer. Und schätzungsweise 950 Menschen starben bei der Durchquerung der Sahara – und das sind die Fälle, die wir klären konnten. Die wahre Zahl der Menschen, die auf dem Weg starben, wird weitaus höher sein. Wir hoffen, dass die Solidarität Deutschlands für die Schutzsuchenden nicht nachlässt. Sie hat Vorbildcharakter für andere.

In Deutschland wie in anderen Ländern der Europäischen Union werden die Forderungen immer lauter, Flüchtlinge an den Außengrenzen zurückzuweisen. Welche Folgen hat das aus Ihrer Sicht?

In der hitzigen Einwanderungsdebatte in Europa taucht immer wieder ein Wort auf: Kontrolle. Zu den von einigen Politikern vorgeschlagenen Lösungen gehören der Bau von Mauern, das Zurückdrängen von Booten und das Abschieben von Flüchtlingen und Migranten in andere Länder. Die Staaten haben natürlich das Recht und die Verantwortung gegenüber ihren Bürgern, ihre Grenzen wirksam zu schützen, gar keine Frage. Aber sie müssen dies auf legale Weise und unter Achtung der Rechte der Flüchtlinge tun.

Es gibt Alternativen zu restriktiven Maßnahmen wie der willkürlichen Verweigerung der Einreise oder der Zurückweisung an den Grenzen. Und ich kann Ihnen sagen, dass eine Fixierung auf Grenzkontrollen die wirklich Verzweifelten nicht abschrecken wird. In meiner Arbeit erlebe ich immer wieder, wie viele Maßnahmen, die als „Lösungen“ angepriesen werden, gegen internationales Recht und sogar grundlegende Menschenrechte verstoßen. Sie gehen auch nicht auf die Gründe ein, warum Menschen fliehen: Krieg, Konflikte, Gewalt, Verfolgung, verschärft durch die Klimakrise – die großen Herausforderungen unserer Zeit, und zwar nicht nur für Flüchtlinge, sondern für uns alle.

Verständlicherweise erwarten die Menschen von ihren Politikern, dass sie die mit der Zuwanderung verbundenen Herausforderungen bewältigen. Aber wir müssen dies in einer fairen, legalen und natürlich effektiven Weise tun, die sowohl den Druck auf die Asylsysteme verringert als auch das Vertrauen der Öffentlichkeit gewinnen und erhalten kann.

Gibt es aus Ihrer Sicht eine sinnvolle Alternative zu einer „Politik der geschlossenen Grenzen“?

Es gibt viele Möglichkeiten, die es den Regierungen der entwickelteren Länder erlauben würden, human und legal auf die Situation der Flüchtlinge und Migranten zu reagieren. Schnellere und gerechtere Asylsysteme und der Abbau von Rückständen sind von grundlegender Bedeutung. Die Antragsverfahren müssen effizienter und schneller werden und die europäischen Staaten müssen besser zusammenarbeiten und die Verantwortung aufteilen. Das würde viel dazu beitragen, Fremdenfeindlichkeit zu unterdrücken und das allgemeine Gefühl zu bekämpfen, dass die nationalen Grenzen im Chaos versinken und die Zahl der ankommenden Asylsuchenden nicht zu bewältigen ist. Und um es klar zu sagen: Das ist in Europa definitiv nicht der Fall!

UNHCR ist bereit, den Staaten – auch in Europa – dabei zu helfen, diese Herausforderung wirksamer zu bewältigen. Wir entwickeln derzeit neue Vorschläge. Es ist natürlich von entscheidender Bedeutung, dass komplexe und glaubwürdige Asylfälle weiterhin in den EU-Ländern angehört werden, sodass das Recht, auf dem Gebiet der EU Asyl zu beantragen, gewahrt bleibt. Gleichzeitig werden Mechanismen geprüft, mit denen Fälle, die als unbegründet angesehen werden, von EU-Staaten in Drittländern der Region bearbeitet werden können. In allen Fällen würden die Anträge natürlich weiterhin fair und ordnungsgemäß geprüft. Das Recht der Menschen, bei ihrer Ankunft in der EU Asyl zu beantragen, ist ein wichtiger Schutz. Menschen, die kein Asyl benötigen und kein Bleiberecht haben, sollten sicher und in Würde zurückgeschickt werden.

Aber wir müssen auch Alternativen zu diesen gefährlichen Reisen anbieten – Möglichkeiten für Menschen, mit Hoffnung und Selbstbestimmung zu leben. Dazu gehört auch, dass wir den Vertriebenen mehr sichere und legale Möglichkeiten bieten, Sicherheit zu finden – auch wenn diese nur vorübergehend ist. Ein weiteres Element ist eine bessere Hilfe und Unterstützung für die Menschen, wo immer sie sich entlang der Migrationsrouten befinden. Wir arbeiten mit Partnern zusammen, um in diesen Bereichen schneller und wirksamer reagieren zu können.

Wie steht es um die finanzielle Unterstützung des UNHCR?

Das Geld für die humanitäre Hilfe ist äußerst knapp. Und gleichzeitig steigt die Zahl der Krisen. Es besteht dringender Bedarf an Unterstützung für Menschen in Ländern wie der Ukraine, wo der harte Winter bevorsteht, und im Sudan, wo die Menschen zusätzlich zu einem verheerenden Konflikt mit Hungersnöten und Überschwemmungen zu kämpfen haben.

Andere Regionen, die in Europa weniger im Rampenlicht stehen, leiden ebenfalls. So sind beispielsweise die Rohingya-Flüchtlinge in Bangladesch, die Vertriebenen in Afghanistan, die DR Kongo, wo es zu einem schweren Mpox-Ausbruch gekommen ist, und viele andere Situationen weiterhin stark unterfinanziert. Das ist besorgniserregend, und wir brauchen dringend die anhaltende Solidarität der reicheren Länder.

Millionen von Flüchtlingen – die überwältigende Mehrheit – leben in weniger wohlhabenden Ländern, die mehr Unterstützung für ihre nationalen Systeme benötigen, weil sie jetzt viel mehr Menschen betreuen müssen. Andernfalls werden die Menschen trotz der tödlichen Gefahren, die auf sie lauern, weiterziehen. UNHCR hilft in vielen dieser Länder. Bis Ende August 2024 haben wir jedoch nur 38 Prozent des für 2024 ermittelten globalen Bedarfs erhalten.

UNHCR sieht sich also mit einer Finanzierungslücke konfrontiert, die sehr reale Folgen für Millionen von Menschen hat. Das sind die Menschen, die zur Flucht gezwungen sind, aber auch die Menschen, die sie aufgenommen haben, nicht selten selbst fragile Länder. Wir räumen den Bedürftigsten Priorität ein, aber die humanitären Krisen und der Bedarf nehmen zu, und es wird dringend mehr internationale Unterstützung benötigt.

Hochkommissar der UN

ItalienerAm 1. Januar 2016 wurde der Italiener Filippo Grandi zum UN-Flüchtlingskommissar bestellt. Grandi, 1957 geboren, ist seit über 30 Jahren im Bereich der humanitären Hilfe tätig. Vor seiner Bestellung zum Flüchtlingskommissar hat er unter anderem das UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge geleitet, für die UN-Unterstützungsmission in Afghanistan war er als stellvertretender Sonderbeauftragter tätig.

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Erstellt:
16. September 2024, 11:34 Uhr
Aktualisiert:
16. September 2024, 15:20 Uhr

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