Neue Frühmenschen-Spezies
„Pink“ war vor 1,4 Millionen Jahren der erste Westeuropäer
2022 entdeckten Archäologen in Nordspanien die Knochenteile eines prähistorischen Menschen. Nun verkündeten die Experten eine wissenschaftliche Sensation: Die 1,1 bis 1,4 Millionen Jahre alten Schädelfragmente zeigen Kiefer, Wangen und Nase sind das älteste Gesichtsfossil Europas und gehören zu einer noch unbekannten Frühmenschen-Art.

© © Maria D. Guillén/IPHES-CERCA, Elena Santos/CENIEH
Diese in Nordspanien entdeckten Knochen zeigen Teile der linken Gesichtshälfte eines 1,1 bis 1,4 Millionen Jahre alten Frühmenschen. Es ist das älteste Gesichtsfossil Europas.
Von Markus Brauer
Die Menschheit hat einen weiteren Verwandten: Im nordspanischen Ausgrabungsort Atapuerca haben Wissenschaftler eine bisher unbekannte Menschenart entdeckt.
Die im Jahr 2022 gefundenen Kiefern- und Wangenfragmente gehörten zu einem „neuen Typus der menschlichen Evolution, den wir bisher nicht kannten“, heißt es in der Studie in der Fachzeitschrift „Nature“.
Nature research paper: The earliest human face of Western Europehttps://t.co/veemF63Ia1 — nature (@Nature) March 13, 2025
Die vor drei Jahren in der Höhle Sima del Elefante (Elefantengrube) und Unesco-Welterbestätte in Atapuerca in der Provinz Burgos gefundenen Knochenteile galten bereits damals als Sensation, da es sich dabei mit einem datierten Alter von 1,1 bis 1,4 Millionen Jahren um den „ältesten Westeuropäer“ handelt.
Zunächst ordnete das Forscherteam die Fragmente der Menschenart Homo erectus zu. Einer Spezies, die sich vor sich vor rund zwei Millionen Jahren in Afrika entwickelte und woraus später der Homo sapiens entstand. Nun kamen die Wissenschaftler aber zu noch weiter reichenden Erkenntnissen.
Dabei zeige „Pink“, wie das Fossil getauft wurde, Charakteristiken, die ihn dem modernen Homo sapiens ähnlicher machten als dem Homo erectus, heißt es weiter. Aufgrund des Fundes datieren die Forscher die menschliche Präsenz in Europa rund 300.000 Jahre früher als bisher angenommen.
Europa wurde von mehreren Frühmenschenarten bevölkert
Der Fund belegt, dass Europa damals von mindestens zwei, vielleicht sogar mehr Frühmenschenarten besiedelt war. Der Fossilienfund in Atapuerca liefert damit ganz neue Einblicke in die Evolution des Menschen.
In dieser Region wurden bereits 1990 die rund 860.000 Jahre alten fossilen Überreste eines Homo antecessor entdeckt. 2008 folgte in der Höhle Sima del Elefante der Fund eines 1,1 bis 1,2 Millionen Jahre alten Frühmenschen-Unterkiefers.
Archäologen um Rosa Huguet vom katalanischen Institut für Paläoökologie und menschliche Evolution (IPHES-CERCA) suchen bereits seit einigen Jahren nach weiteren Funden in der Sima-del-Elefante-Cave. Im Jahr 2022 stießen sie in einer etwas tiefer liegenden Fundschicht auf fossile Knochenfragmente eines Homininen. Diese ATE7-1 getauften Funde sind mit 1,1 bis 1,4 Millionen Jahren deutlich älter als der Homo antecessor, wie die Forscher in ihrer aktuellen "Nature"-Studie konstatieren.
Ältestes menschliches Wesen Westeuropas
Die fossilen Knochen umfassen Bruchstücke des Oberkiefers, der Nase sowie des linken Jochbeins eines erwachsenen Frühmenschen. Diese Fülle an Fragmenten ist an sich schon eine archäologische Rarität. Noch bedeutsamer ist ATE7-1 aber wegen seines hohen Alters. „Dieses Fossil repräsentiert das älteste menschliche Gesicht, das bisher in Westeuropa gefunden wurde“, erklären die Paläoanthropologen.
Von welcher Frühmenschenart stammen diese Gesichtsknochen? Um dies herauszufinden, analysierten die Forscher jedes Knochenfragment, scannten es ein und nutzten 3D-Modelle, um die Gesichtsknochen virtuell zusammenzusetzen. Erst dadurch konnten sie die Anatomie ihres Frühmenschen-Fossils mit der anderer europäischer Homininenfunde vergleichen.
Die anatomischen Analysen ergaben, dass die Gesichtsknochen nicht vom Homo antecessor stammen. „Homo antecessor teilt mit Homo sapiens ein moderneres Aussehen des Gesichts und eine ausgeprägte Nasenstruktur“, erklärt Co-Autorin María Martinón-Torres vom Nationalen Forschungszentrum CENIEH in Burgos. „Wir können daher relativ sicher sagen, dass dieses Exemplar zu einer anderen Spezies gehörte als der Homo antecessor aus Gran Dolina.“
Neue archaische Frühmenschen-Spezies
Huguet zufolge könnte das Gesichtsfossil von einer bisher unbekannten Frühmenschenspezies stammen. „Die Beweise reichen noch nicht aus für eine endgültige Klassifikation“, erklärt Martinón-Torres. Wegen der Ähnlichkeiten zum Homo erectus haben die Paläanthropologen ihre Fund vorläufig Homo affinis erectus getauft (affinis, lateinisch für mahestehend). „Diese Bezeichnung kennzeichnet die Übereinstimmungen mit Homo erectus, lässt aber die Möglichkeit offen, dass ATE7-1 einer anderen Art angehören könnte“, erläutert Martinón-Torres.
Den Forschern zufolge zeigt der Fund, dass Westeuropa während des frühen Pleistozän von mindestens zwei verschiedenen Homo-Spezies bevölkert war: erst Homo affinis erectus und später Homo antecessor.
Als Europas erste Frühmenschen fast völlig verschwanden
Der zeitliche Abstand zwischen den beiden Frühmenschenarten könnte einen schon zuvor vermuteten Einschnitt bestätigen: Vor rund 1,1 Millionen Jahren verliert sich die Spur der ersten Siedler Europas im Nirgendwo. Was war geschehen? Was waren die Gründe für den Kollaps der ersten frühzeitlichen Populationen auf dem europäischen Kontinent?
Vor etwa 1,1 Millionen brach eine Kälteperiode über Europa herein, die den Kontinent weitgehend unbewohnbar machte und den Großteil der Frühmenschen erfrieren ließ. Wer überlebte, zog zurück nach Afrika. Auch Spanien und der Mittelmeerraum kühlten so stark ab, dass die eiszeitlichen Kältesteppen für Zehntausende Jahre unbewohnbar wurden - auch deshalb, weil die Frühmenschen noch kein Feuer, keine warme Kleidung und Unterkünfte kannten.
Homo antecessor – Beherrscher des Feuers
Für einige hunderttausend Jahre war Europa wahrscheinlich weitgehend menschenleer und wurde erst vor rund 900.000 Jahren wieder rekolonisiert. Die Frühmenschen der Spezies Homo antecessor waren offenbar resilienterer gewesen als der Homo affinis erectus und verfügten über Fähigkeiten, die ihnen das Überleben in den folgenden Kaltzeiten ermöglichten.
Homo antecessor wusste, das Feuer zu beherrschen, warme Kleidung anzufertigen und schützende Unterkünfte zu errichten. Die Besiedlung Europas durch die Vorfahren der Neandertaler erfolgte danach in einem zweiten evolutionären Anlauf.
Diente Atapuerca Frühmenschen als Refugium inmitten einer Eiswelt?
Ob auch das Gebiet von Atapuerca sich damals komplett entvölkerte, ist jedoch noch ungeklärt. „Es gibt dazu verschiedenste Szenarien. Eines ist die Möglichkeit, dass eine Restpopulation von Homo affinis Erectus für kurze Zeit gemeinsam mit dem Homo antecessor vorkam“, resümieren Huguet und ihre Kollegen. Die Gegend rund um die Höhlen von Atapuerca könnte dabei trotz Kaltzeit noch mild genug gewesen sein, um den Frühmenschen als Refugium zu dienen.
Möglich wäre aber auch, dass die Kälte den Homo affinis erectus ganz aus Nordspanien vertrieb. Der Homo antecessor wanderte dann erst nach Ende des Kälteeinbruchs wieder in die Region ein. Welches Szenario zutrifft, könnten weitere Funde aus Atapuerca zeigen. „Die neue Fossil-Entdeckung bestätigt damit die Rolle von Atapuerca als entscheidender Ort für die Erforschung der menschlichen Evolution“, sagt Marina Mosquera.