Wahl in Annonay: Innenpolitik stiehlt Europa die Show

Menschen aus Backnangs französischer Partnerstadt Annonay geben Auskunft über die Sorgen und Probleme vieler Franzosen im Vorfeld der Europawahl. Oft sind gar nicht europäische Themen ausschlaggebend für die Wahlentscheidung.

In Frankreich sind es nicht die Europathemen, welche die Menschen beschäftigen. Foto: Imago/Manngold

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In Frankreich sind es nicht die Europathemen, welche die Menschen beschäftigen. Foto: Imago/Manngold

Von Ingrid Knack

Annonay. Wie wird die Europawahl in Annonay wahrgenommen? Wie europafreundlich oder -kritisch sind die Menschen dort? Welche Europathemen beschäftigen die Menschen in Frankreich zurzeit? Michel Suzzarini, von 1991 bis 1996 Präsident des Comité de Jumelage, des Partnerschaftskomitees in Annonay, bringt seine Einschätzung so auf einen Nenner: „Wie überall in Frankreich ist dies nicht die primäre Sorge der Franzosen.“ Was aber sind die Themen, die die Franzosen in diesen Tagen beschäftigen? „Der Krieg in Europa, die Kaufkraft und der Aufstieg extremer Parteien.“

Daniel Miséry, der aktuelle Präsident des Komitees in Annonay, hat ebenso den Eindruck, dass die Europawahl auf wenig Interesse in der Bevölkerung stößt. Was die Franzosen umtreibe, sei neben der Inflation beispielsweise die Einwanderung: „Europa ist ein Sieb“, ist seine bildhafte Beschreibung dafür. Sein Fazit: „Wir empfinden höchstens Gleichgültigkeit. Oder noch schlimmer: Diese Wahl scheint eine Zwischenwahl, eine rein französische Wahl für oder gegen Macron zu werden. Die Enthaltungsrate dürfte sehr hoch sein.“

Alain Dusser – er stand dem Partnerschaftskomitee in Annonay zwischen 1996 und 2021 vor – bekräftigt: „Die Abstimmung vom 9. Juni dürfte eine Abstimmung über die Innenpolitik in Frankreich werden.“ Die Opposition sei stark und es gehe zahlreichen potenziellen Wählern wohl um eine Abrechnung mit der Regierung, die absolut nichts mit Europa zu tun habe. Die Meinungsumfragen zeigten einen deutlichen Vorsprung der Rechtspopulisten, was es so noch nie gegeben habe.

Das Sicherheitsgefühl bestimmt mit

Immer wieder spricht Dusser von Unsicherheit, die die Menschen auf unterschiedlichen Ebenen verspürten, sei es direkt in Zusammenhang mit dem, was sie sich angesichts der Inflation sowie steigender Energie- und Spritpreise noch leisten könnten, sei es bezogen auf das allgemeine Sicherheitsgefühl. Dusser: „Es vergeht kein Tag, an dem nicht in den Nachrichten von einer Tötung, einem Mord berichtet wird.“ Der Annonayer führt als Beispiel Schreckensnachrichten wie unlängst aus Sevran an, einer Vorstadt von Paris. Innerhalb weniger Tage wurden dort Anfang Mai in aller Öffentlichkeit drei Menschen erschossen.

Vorfälle wie diese lasten schwer nicht nur auf der Seele der Franzosen, die in den besonders betroffenen Gebieten leben. Der Ruf von Bürgermeistern und Bürgern nach dem Staat, der zur Sicherheit der Bevölkerung gegen diese Banden vorgehen müsse, ist unüberhörbar.

Dusser nennt überdies Marseille, wo ein Drogenkrieg tobe und die Zahl der Opfer rasant zunehme. Besorgt seien die Bürger obendrein, dass bei Clankriegen – unter anderem in ethnisch abgeschotteten Milieus – sogar Kinder oder Jugendliche umkämen. Zudem hat die schweigende Mehrheit nach Beobachtungen des Journalisten im Ruhestand genug vom „Aufstieg des Islam, nicht in religiöser, sondern in politischer Hinsicht“. Sorgen bereiteten darüber hinaus antisemitische Vorfälle. Diese haben nach dem Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 auch in Frankreich extrem zugenommen.

Fokus liegt auf nationalen Themen

In den öffentlichen Debatten dieser Tage geht es laut Dusser weniger um Europa, sondern mehr um nationale Themen. Eine der Ausnahmen stelle der Konflikt vor unserer Haustür dar, der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine.

Fabienne Dusser-Montet, Vorstandsmitglied im Annonayer Partnerschaftskomitee, unterstreicht die Ausführungen ihres Vaters. Zudem lässt sie wissen: „Ich habe mich auf der Arbeit umgehört und offensichtlich hat niemand Interesse für die Wahl.“

Patrick Charrier, der von 2021 bis 2023 das Annonayer Partnerschaftskomitee anführte, erklärt: „In Frankreich sind die Europawahlen für die Franzosen leider eine große nationale und politische Umfrage, bei der die Wähler ihre politischen Präferenzen zur Schau stellen können, ohne ein Risiko einzugehen. Die Wähler in Annonay, Marseille, Lyon oder Nancy lassen ihren Frust an der amtierenden Regierung aus, ohne sich wirklich für die europäischen Fragen zu interessieren.“ Es gebe jedoch eine „unterschwellige Besorgnis angesichts der strategischen Lage des Landes und Europas“, die die Franzosen seiner Meinung nach unbestreitbar dazu veranlasse, europäischen Themen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Zum Beispiel nennt Charrier hier die Ziele des Aggressors Putin, Chinas wirtschaftlichen Imperialismus, Einwanderung und Islamismus. Sein Fazit: „Die Bewohner der Ardèche und mithin von Annonay sind ruhiger und friedlicher als ihre Landsleute in den großen Städten, aber sie machen sich Sorgen um ihre Zukunft und ihre Kinder und fordern nicht mehr den Austritt aus Europa und der Eurozone.“

Die Wahl als Anti-Macron-Demo

Stimmen von Michel Tobois und Klaus Erlekamm, Urgesteine der Partnerschaft zwischen Backnang und Annonay:

Sicherheit „Die Europawahl wird zu einer ,Anti-Macron-Demo‘ umfunktioniert.“ Dieser Satz stammt von Michel Tobois, der in Deutschland und Frankreich lebt. Er kennt die Alltagssorgen der Franzosen, die wenig Lust zu haben scheinen, sich mit politischen Themen fernab ihrer Lebensrealität zu beschäftigen. Der gebürtige Franzose war viele Jahre Vorsitzender des Partnerschaftskomitees in Backnang. Er unterhält nach wie vor enge Kontakte zu Freunden in Annonay und verfolgt regelmäßig die Berichterstattung über Europa in französischen und deutschen Medien. Michel Thobois sagt aber auch: Was die Franzosen im Zusammenhang mit Europa interessieren könnte, seien Probleme, die nur von den europäischen Staaten gemeinsam zu lösen seien und die mit der inneren Sicherheit und der Gefährdung des Friedens zu tun haben. Neben der illegalen Einwanderung geht es hier angesichts des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine in erster Linie um das Thema Verteidigung. Thobois spricht indes von der „Macron’schen Utopie einer europäischen Verteidigungstruppe“.

Europa neu denken einst... Klaus Erlekamm hat es schon einmal erlebt: die Gestaltung eines Europas mit Zielen wie „Förderung des Friedens, der europäischen Werte und des Wohlergehens ihrer Bürger und Bürgerinnen. Freiheit, Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit in einem Raum ohne Binnengrenzen bei angemessenem Schutz der Außengrenzen zur Regelung von Einwanderungs- und Asylfragen sowie zur Verhinderung und Bekämpfung von Kriminalität“ (Quelle: Europa-Union). In seiner Zeit als Hauptamtsleiter und später Kulturamtsleiter der Stadt Backnang setzte sich Erlekamm an der Basis für den europäischen Gedanken ein, schon als es noch um Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg ging. Er gestaltete Europa dort mit, wo es ihm möglich war: bei den Partnerschaften Backnangs mit dem französischen Annonay, dem ungarischen Bácsalmás und dem englischen Chelmsford. Die Freude über das Zusammenwachsen Europas war groß.

...und jetzt Dass dieses Europa einmal auf unterschiedliche Weise von innen und außen angegriffen werden könnte, erschien in Zeiten der Aussöhnung und der selbstverständlich gewordenen Austausche wohl den meisten als unvorstellbar. Doch es kam anders. In seinem Buch „Engagiert für Europa. Gedanken, Geschichte und Geschichten“, das 2020 veröffentlicht wurde, nennt Erlekamm die Gefahren für Demokratie und Gesellschaft beim Namen, wobei „die gemeinsamen Widersacher ,Rechtsaußen‘“ eine Hauptrolle spielen. Auch er verfolgt die Stimmung in Frankreich und in den anderen europäischen Ländern. In seinem Statement jetzt vor der Europawahl formuliert der Autor, der immer noch aktiv mit der Europa-Union im Rems-Murr-Kreis verbunden ist, es so: „Angetreten sind diese Rechtsaußen mit dem perfiden Ziel, nach dem Weg durch die demokratischen Institutionen die Europäische Union zu zerstören.“ Erlekamm zeigt sich dennoch zuversichtlich: „Die demokratischen Kräfte werden dies zu verhindern wissen.“ Persönlich wünscht er sich bei den Wahlen zum Europäischen Parlament eine hohe Wahlbeteiligung, keine Stimmenzugewinne für Rechtsaußenvertreter, in allen Politikbereichen Ersatz der bisherigen Einstimmigkeitsregel durch Mehrheitsentscheidungen und eine „glaubhafte Verteidigungsunion“.

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Erstellt:
5. Juni 2024, 06:00 Uhr

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