Warnung: Mehr psychisch belastete Kinder und Jugendliche
dpa/lsw Stuttgart. Lernen alleine von zuhause, kein Sportverein, kaum Kontakt zu Gleichaltrigen: Vielen Schülern hat das in der Corona-Pandemie auf die Seele gedrückt. Sie benötigen professionelle Hilfe, aber es fehlt an Möglichkeiten. Das will ein Fachgipfel nun ändern.
Weil Psychiater zum Beginn des neuen Schuljahres mit einer großen Zahl an psychisch belasteten Kindern rechnen, sollen junge Menschen mehr Möglichkeiten für eine Behandlung erhalten. Darauf haben sich am Mittwoch die rund 50 Teilnehmer eines digitalen Fachgipfels zur psychischen Situation von Kindern und Jugendlichen in Folge der Corona-Pandemie geeinigt. Der zusätzliche Bedarf an ambulanter und an stationärer Behandlung könne durch die aktuellen Versorgungskapazitäten nicht überall abgedeckt werden, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der Gipfelteilnehmer.
Nach Angaben von Sozialminister Manne Lucha, der die Experten, Jugendhilfe, Jugendsozialarbeit und Betroffenenverbände eingeladen hatte, soll eine Arbeitsgruppe Vorschläge für einen Ausbau zusammenstellen. Genaue Zielvorgaben nannte Lucha nicht.
„Die psychische Situation vieler Kinder und Jugendlicher hat sich durch die Pandemie erheblich verschlechtert“, sagte der Grünen-Minister am Abend. „Kinder und Jugendliche leiden besonders unter der Krise.“ Er rechnet mit einem deutlichen Anstieg der Zahl der Betroffenen: „Es steht zu befürchten, dass wir heute erst die Spitze des Eisbergs sehen“, sagte er.
Nach Angaben des Sozialministeriums sind die Kapazitäten im voll- und teilstationären Bereich stetig aufgebaut worden. Die Zahl der vollstationären Plätze in der Kinder- und Jugendpsychiatrie sei zwischen 2015 und 2021 um 16 Prozent gestiegen, im teilstationären Bereich gar um 40 Prozent. Der Städtetag Baden-Württemberg kritisiert allerdings, es gebe schon jetzt nicht genügend Plätze.
Er gehe davon aus, „dass die Zahlen deutlich ansteigen werden, wenn die Kinder und Jugendlichen wieder in ein Umfeld kommen, in dem sie gehört und gesehen werden“, sagte auch Jörg Fegert, der Ärztliche Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Uniklinikum Ulm, der „Südwestpresse“ (Mittwoch/Ulm). Diese Erfahrung habe man bereits nach dem ersten Lockdown gemacht. „Wir wissen, dass häufig die Schulen es zuerst wahrnehmen, wenn Kinder und Jugendliche psychische Probleme haben.“ Durch die Pandemie hätten vor allem Angst- und Essstörungen stark zugenommen.
Familienforscher hatten zuletzt Ende Juli davor gewarnt, die psychischen Belastungen durch die Corona-Pandemie auf Schülerinnen und Schüler zu unterschätzen. „Die Auswirkungen von Schulschließungen auf die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen sind offensichtlich gravierender als bisher angenommen“, hatte der stellvertretende Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB), Martin Bujard, erklärt. Vor allem jugendliche Mädchen und junge Menschen mit Migrationshintergrund seien betroffen.
Nach einer vor einem Jahr veröffentlichten Mannheimer Studie waren während der ersten Phase der Corona-Krise 57 Prozent von 666 befragten 16- bis 25-Jährigen belastet, 38 Prozent mittel bis schwer. Der Umgang mit der Isolation von Freunden und Verwandten sei ausschlaggebend für den Grad der Belastung, so das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) im August vergangenen Jahres. Mit zunehmendem Grad der sozialen Isolation wachse das Risiko einer psychischen Belastung. Laut ZI ist die Online-Befragung (7. bis 16. Mai 2020) für Deutschland repräsentativ.
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