Überraschender Vorstoß gegen Assad-Regime

Warum Dschihadisten in Syrien plötzlich an Boden gewinnen

Nach einer überraschenden Offensive übernehmen Rebellen die Kontrolle über die Millionenstadt Aleppo. Wie konnte dies so schnell geschehen? Und wie reagieren der syrische Präsident Assad und seine Verbündeten?

Syrische Oppositionskämpfer fahren an einem erbeuteten Panzer des syrischen Regimes in Kafr Naya in der Provinz Aleppo vorbei.

© dpa/Anas Alkharboutli

Syrische Oppositionskämpfer fahren an einem erbeuteten Panzer des syrischen Regimes in Kafr Naya in der Provinz Aleppo vorbei.

Von Markus Brauer/AFP

In Syrien haben dschihadistische Kämpfer binnen weniger Tage bedeutende Geländegewinne gegen die Truppen von Machthaber Baschar al-Assad erreicht. Es ist die erste erfolgreiche Großoffensive der von der Türkei unterstützten Regierungsgegner seit Jahren.

Die Offensive hat viele verblüfft. Sie hängt Experten zufolge mit den Entwicklungen der vergangenen Monate im Nahen und Mittleren Osten zusammen. Fragen und Antworten zu dem seit 2011 andauernden und nun wieder aufgeflammten Bürgerkrieg:

Warum rücken die Dschihadisten gerade jetzt vor?

Nach Einschätzung von Forscherin Dareen Khalifa von dem in Brüssel ansässigen Politikinstitut International Crisis Group haben die islamistischen Kämpfer der Gruppe Hajat Tahrir al-Scham (HTS) und ihrer Verbündeten ihren Vorstoß seit Monaten vorbereitet.

Khalifa zufolge nutzten die Dschihadisten dabei die aus ihrer Sicht bestehende Schwäche von Iran und Russland aus, der Verbündeten der syrischen Regierung.

Aus der Perspektive der Kämpfer ist insbesondere die vom Iran finanzierte und bewaffnete Hisbollah-Miliz geschwächt. Die in Syrien an der Seite der Assad-Regierung kämpfende Miliz hat schwere Verlust durch Angriffe Israels auf ihre Stellungen im Libanon und in Syrien erlitten.

Was hat die Offensive mit der Hisbollah zu tun?

Die Offensive der syrischen Dschihadisten begann am Mittwoch (27. November), dem Tag, an dem im Libanon die Feuerpause zwischen Israel und der Hisbollah in Kraft trat.

Auch Russland sehen die Kämpfer laut Expertin Khalifa mittlerweile in einer schwächeren Position gegenüber der Türkei, die wiederum die Dschihadisten unterstützt. Der Nato-Mitgliedstaat Türkei hat sich als möglicher Vermittler im Ukraine-Krieg positioniert und ist gleichzeitig ein wichtiger Handelspartner des von westlichen Sanktionen getroffenen Russlands.

Was bezwecken die Islamisten?

Die HTS und ihre Kampfgenossen stellen die Offensive laut Khalifa als „defensiven Schritt“ gegen die „Eskalation“ durch Assads Truppen dar. Zuletzt hatten das syrische und russische Militär ihre Luftangriffe auf die von den Regierungsgegnern gehaltenen Regionen verstärkt.

Nach Einschätzung von Caroline Rose vom in Washington ansässigen New Lines Institute stellt die Offensive einen Versuch dar, „das Regime zu Verhandlungen mit schlechteren Karten“ zu zwingen.

Welchen Einfluss haben ausländische Mächte in dem Syrien-Konflikt?

Die nun stattfindenden Kämpfe betreffen insbesondere Russland und den Iran, die auf der Seite der Assad-Regierung stehen. Und die mit den Dschihadisten verbündete Türkei, die mit eigenen Truppen Teile von Nordsyrien besetzt und Gruppen von Regierungsgegnern unterstützt. Beide Seiten äußern sich bislang für ihre Verhältnisse zurückhaltend.

So hieß es aus dem Kreml, die russische Präsidentschaft hoffe, dass Syrien wieder für „Ordnung“ in Aleppo sorgen werde. Der iranische Außenminister sprach mehrfach von einem nicht näher benannten Komplott seiner Erzfeinde USA und Israel zur „Destabilisierung der Region“. Die Türkei rief dazu auf, die „Angriffe“ russischer und syrischer Kampfjets auf die Regierungsgegner in der syrischen Region Idlib zu beenden.

Welche Rolle spielt die Türkei?

Expertin Khalifa zufolge könnte die Türkei in den kommenden Tagen ihre Haltung ändern: Sollte es den Dschihadisten gelingen, ihre Geländegewinne zu halten, werde dies „ein Test dafür“, ob die Türkei in Syrien „aufs Ganze geht“.

Das Verhältnis zwischen der Türkei und der syrischen Regierung ist in einer heiklen Phase. Die Türkei hatte zu Beginn des syrischen Bürgerkriegs 2011 einen Sturz Assads unterstützt. Später drängten Russland und der Iran auf eine Entspannung zwischen Ankara und Damaskus, in den vergangenen Jahren gerieten Versuche einer Annäherung allerdings ins Stocken.

Was sagt die Offensive über den Zustand der Assad-Regierung aus?

Für die syrische Regierung bedeutet die erfolgreiche Offensive der Dschihadisten den größten Gebietsverlust seit Jahren. Neben der weitgehenden Eroberung von Aleppo gelang HTS und Verbündeten die Blockade der Schnellstraße M5, die Aleppo mit der Hauptstadt Damaskus verbindet. Sie erlangten zudem die Kontrolle über das Kreuz zwischen der M5 und der M4, die von Aleppo aus zur Küstenstadt Latakia führt.

Die militärische Schwäche von Assads Truppen hat sogar Experten überrascht. Deren Verteidigungslinien seien „mit unglaublicher Geschwindigkeit zusammengebrochen“, erläutert Expertin Khalifa.

Warum haben Assads Verbündete den Vormarsch nicht verhindert?

Der Leiter der im Land weit vernetzten Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Rami Abdel Rahman, bezeichnet es als „seltsam“, dass die Regierungskräfte trotz Unterstützung der russischen Luftwaffe „derart massive Rückschläge“ erlitten hätten.

Aaron Stein, Forscher des in den USA ansässigen Foreign Policy Research Institute, erklärt die Geschwindigkeit der Rückschläge mit der gleichzeitigen Schwächung der Hisbollah und einer „Ausdünnung“ der Präsenz der russischen Luftwaffe in Syrien. Mit Blick auf Assad fügte er an, das schnelle Vorrücken der Regierungsgegner sei eine „Erinnerung daran, wie schwach das Regime ist“.

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Erstellt:
1. Dezember 2024, 17:04 Uhr

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